Tótem (2023)

Romain Antony | 10.03.2023

Den Titel bringe ich mit Ethnologie in Verbindung, mit Volksstämmen in Lederschürzen, die um ein Lagerfeuer tanzen, mit Symbolen der Verbundenheit in Holz geschnitzt, mitten im Urwald oder Regenwald. Die Kurzzusammenfassung im Berlinale-Programm ist nicht weiter erhellend. Sie lautet: “Familie und Freund*innen kommen zu einem zweifachen Ritual zusammen: Der Maler und junge Vater hat Geburtstag, aber dies ist auch ein Abschiedsfest.“ Ich bin neugierig. Und bin erstmals genervt über das Alltagsgeschehen, das angeboten wird. Mutter und ihre Tochter Sol (Naíma Sentíes, bemerkenswert ) unterhalten sich neckisch über ihr Pinkeln, singen zusammen im Auto auf der Fahrt zu einem Haus, wo die zahlreichen BewohnerInnen ihren Tätigkeiten nachgehen. Man sieht eine sich die Haare waschende Tante, eine Backende, einen seinen Bonsaibaum stutzenden Opa mit Laryngektomie, ein altkluges kleines Mädchen mit Katze auf dem Küchenschrank sitzend, Fettstriemen entdeckend, einen Schwamm zum Wegwischen erbetend, währen ihre Mutter unter Backstress steht. Der Geburtstagskuchen brennt an, ein neuer wird angefangen. Und dann kommt auch noch auf Einladung der Schwester des erkrankten Tuna, eine Geister beschwörende, quacksalbernde Pseudoschamanin ins Haus, wedelt mit Rauch durch die Räume, Opas Raum auslassend, weil dieser sich gegen den satanischen Firlefanz verwahrt. Ich bin erleichtert. Die Aktion wird filmisch durch Ironie gebrochen. Ich beginne den Film zu mögen. . Ein weiteres erfreuliches Gefühl stellt sich ein bei der Geduld und dem Langmut, den die Mutter Esther dem altklugen Kind mit der Katze, entgegen bringt. Der Film wird zunehmend interessanter, zieht mich in seine Geschichte hinein, entfaltet ein komplexes Gebilde von einfachen Handlungen mit kleinen Konflikten. Beispiel: Cousin und Cousine sollen mithelfen bei den Vorbereitungen der Geburtstagsparty von Tuna, dem schwer erkrankten Vater von Sol. Wir kennen als Erwachsene alle diese Ausflüchte, Verweigerungen von Jugendlichen, wenn es ums Helfen im Haushalt geht. In den Argumentationen, die geforderte Hilfestellung zu verweigern, werden alle Register gezogen, auch die Genderkarte. Mädchen sollen helfen, Jungs werden geschont. Wenn der Bruder nichts tut, tue ich auch nichts. In dieser und in anderen Szenen werden Nebensächlichkeiten aufgegriffen, die auf übergeordnete Sachlagen hinweisen. Das Bedeutungsvolle liegt in den Details. Das Beziehungsgeflecht der agierenden Personen ist vielschichtig; bis zum Schluss des Filmes bleiben mir die einige Verbindungen, so die von Ester und ihrer Mutter zu den anderen Verwandten, unklar. Tuna, dessen Geburtstag gefeiert wird, taucht erst spät im Film auf. Er wird von Cruz, einer mütterlichen, kompetenten Pflegerin betreut, die ihn auch physiotherapeutisch versorgt. Der Film spielt fast ausschließlich an einem Ort, im Haus und Garten der Familie, die eine Party für seinen 27. Geburtstag vorbereitet. Durch einen nicht näher beschriebenen Unfall ist der Künstler und Maler Tuna wirbelsäulengeschädigt, bereitet sich mühsam auf sein Fest vor. Seine Tocher Sol, die mit ihrer Mutter vom Vater getrennt lebt, zweifelt an seiner Liebe zu ihr, weil sie ihn lange nicht besuchen konnte und auch jetzt immer wider vertröstet wird. Ihre Kontaktwunsch zum Vater wird auf eine lange Probe gestellt, jedoch belohnt durch ein Bild mit Tieren, das er für sie gemalt hat. Sol kennt sich aus mit Tieren, weiß um die Häufigkeit der raffinierten, flirrenden Flügelschläge des Kolibri, ebenso wie um die schwarze Giftschlange, die gefährlichste der Welt. Tiere spielen im Film Nebenrollen. Grashüpfer, Schnecken, aus dem Garten gesammelt, werden von Sol auf alte Gemälde platziert. Ameisen huschen auf einer Tapete entlang und werfen kleine Schatten, einer Tapete, von der die vielleicht doch wissende Schamanin sagt, das sich in ihr die positive Energie der verstorbene Oma konzentriert, Hund, Katze,Papagei, eine Gottesanbeterin, die den Finger des erkrankten Tuna berührt. Und Tiere im Abspann, Tiere als Totem, als Verbindungssymbol der Verwandtschaft, als Bindungssubjekte zwischen den Schicksalen aller. Über allem Tun und allen Alltäglichkeiten der Vorbereitungen für das große Fest schwebt der Tod, der Abschied von Tuna, um dessen begrenzte Lebensdauer wohl alle wissen. Die Betriebsamkeit wird des öfteren durchbrochen durch Aufnahmen des mit sich und seinem Leid kämpfenden Tuna, mit der geduldigen und unterstützenden Cruz an seiner Seite. Doch es wird das Leben gefeiert, die Liebe, die Zuneigung. Bei allen Konflikten überwiegt die Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen, mitzuhelfen, dass das Fest gelingt, dass alle glücklich sind, dass jede und jeder zu ihrem und seinem Recht kommt, dass gestaltet wird, um ein gemeinsames Fest der Verbundenheit zu feiern. Der Film erzählt über Symbole, Konfliktbeilegungen, Liebesbeweise. Ein filmisch großartigen Einfall ist die Karaokeszene, in der die zum Riesen gewordene Sol auf den Schultern ihrer verhüllten Mutter, eine Opern-Arie nachahmt. Die vorletzte Einstellung zeigt Tunas Schlafzimmer leer. Wir Zuschauenden wissen, was dieses Bild filmisch bedeutet. Wir alle brauchen ein gemeinsames Totem, welches uns den Weg zeigt und verdeutlicht, dass wir alle miteinander verbunden sind, und das können keine Militaria sein. cf. auch: Berlinale Tagebuch 2023 in: www.filmekommentieren.wordpress.com