Eine lose Folge absonderlicher, vage über Orte, Themen und Figuren verbundener Szenen, die zwischen Zynismus, Verzweiflung und Tragik changieren. Dabei reicht die Bandbreite von gespielten Witzen und sarkastischen Reflexionen bis zu tiefen Einsichten über die Absurdität des Daseins. Die wohlstilisierten, meist exakt nach dem Goldenen Schnitt eingerichteten und bis ins letzte Detail choreografierten Szenen sind befremdlich schön und strahlen etwas Artifiziell-Manieriertes aus. Ein philosophisch-misanthropischer Film als kluge Betrachtung der menschlichen Existenz.
- Sehenswert.
Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach
Tragikomödie | Schweden/Norwegen 2014 | 100 Minuten
Regie: Roy Andersson
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Filmdaten
- Originaltitel
- EN DUVA SATT PÅ EN GREN OCH FUNDERADE PÅ TILLVARON
- Produktionsland
- Schweden/Norwegen
- Produktionsjahr
- 2014
- Produktionsfirma
- Roy Andersson Filmprod./4 1/2 Film
- Regie
- Roy Andersson
- Buch
- Roy Andersson
- Kamera
- István Borbás · Gergely Pálos
- Schnitt
- Alexandra Strauss
- Darsteller
- Holger Andersson (Jonathan) · Nisse Vestblom (Sam) · Charlotta Larsson (die hinkende Lola) · Viktor Gyllenberg (König Karl XII.) · Lotti Törnros (die Flamencolehrerin)
- Länge
- 100 Minuten
- Kinostart
- 01.01.2015
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert.
- Genre
- Tragikomödie
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Die FSK-Freigabe „ab 16“ bezieht sich auf das Bonusmaterial (Trailer etc.), der Film selbst hat eine Freigabe „ab 12“. Die Extras umfassen u.a. ein längeres Interview mit Regisseur Roy Andersson (23 Min.).
Diskussion
„Eine Taube saß auf einem Ast und dachte über die Existenz des Menschen nach. Piep.“ Diesen Witz liest man als Schrifttafel, noch bevor der Film beginnt. Dann folgen drei knappe Szenen, die durch den Zwischentitel „Treffen mit dem Tod“ eingeleitet werden. Zuerst will ein Ehepaar zu Abend essen. Sie geht in die Küche, singt ein Lied. Er versucht, eine Weinflasche zu öffnen, strengt sich an, ruft nach ihr, bricht zusammen, ruft nochmal nach ihr, stirbt dabei, ruft ein weiteres Mal nach ihr. Doch sie hört es nicht, sondern singt ihr fröhliches Lied. Zynismus oder tragische Weltsicht? „Treffen mit dem Tod 02“ zeigt ein Krankenhausbett. Darin liegt eine sterbende Alte; drei Kinder, auch schon grau geworden, umringen sie. Sie hält ihre Handtasche umklammert. Die Kinder wollen das, was darin ist, und versuchen ihr die Tasche zu entreißen – was scheitert. Sie zeigt nur ein Lebenszeichen, wenn es ums Geld geht. Sarkasmus oder Verzweiflung? Dann „Treffen mit dem Tod 03“: Der Speisesaal eines Kreuzfahrtschiffs. Ein Toter liegt am Boden. Der Kapitän und ein Arzt sind bei ihm. Die Gäste im Saal schweigen. Die Serviererin fragt: „Und was mache ich jetzt mit dem Essen? Er hat schon bezahlt.“ Der Kapitän: „Wir können nicht zweimal kassieren.“
Nach diesem Prolog folgt hundert Minuten lang kurze Szene auf kurze Szene, die nun allerdings nur vage miteinander verbunden sind, durch Wiederholung der Themen und Orte, Wiederkehr von Figuren, Running Gags wie Telefongespräche, in denen die Figuren jeweils zweimal sagen: „Schön zu hören, dass es Dir gut geht.“ Oder zwei Vertreter von Scherzartikeln, die nie etwas verkaufen, aber offene Rechnungen kassieren wollen, und irgendwann selbst mit Schuldeintreibern konfrontiert sind. Man kann diese Szenen je nach Temperament und Geschmack als gespielte Witze betrachten, als kleine sarkastische Reflexionen über menschliche Schwächen, oder auch als tiefere Einsichten über die Absurdität unseres Daseins.
Am Gelungensten sind die schrilleren, artifizielleren Szenen. Ein Lokal aus der Gegenwart wird plötzlich von Soldaten des frühen 18. Jahrhunderts heimgesucht. Sie verweisen alle Frauen des Ortes. Dann betritt König Karl XII., der unglückliche strahlende Feldherr des „Großen Nordischen Krieges“ die Gaststube. Vollkommen absurd wird es am Ende in „Homo Sapiens“. Ein Affe im Versuchslabor, auf schockierende Weise angekettet, der Kopf eingespannt, der Schädel aufgesägt und verdrahtet. Ihm werden bei lebendigem Leib Stromstöße versetzt, während die dicke, überaus hässliche Laborantin im Kittel (fast alle Menschen in diesem Film sind dick, hässlich und unvorteilhaft gekleidet) neben ihm ungerührt telefoniert. Das ist billigste Denunziation von Wissenschaft, aber trotzdem ein hocheindrucksvolles, dabei seltsam schönes Bild.
Seit Jahrzehnten ist Roy Andersson für seine sehr absonderlichen, wohlstilisierten Betrachtungen über den Menschen berühmt, etwa in „Songs from the Second Floor“ (fd 35 365). Auch sein jüngstes Werk fügt sich in diese besondere Ästhetik: Es gibt nicht eine klare Hauptfigur, sondern zehn bis 20. Neben den Darstellern spielen die Räume entscheidende Rollen. Sie sind grau in grau oder grüngrau in grüngrau. Die Möbel stammen aus den schwer definierbaren drei Dekaden des europäischen Wirtschaftswunders zwischen 1945 und 1975, eine leicht angestaubte wohlfahrtsstaatliche Ästhetik aus Brauntönen und Pastellfarben, voller Plastik, Holz und billigem Metall. Die stilisierten Bilder sind meist exakt nach Goldenem Schnitt gestaltet, die Menschen kommen von links, wo der Raum offener, weiter ist als rechts.
Zu sehen sind Institutionen: ein Krankenhaus, ein Männerwohnheim, eine Bushaltestelle, eine Gaststätte. Die Menschen darin sind bis zum letzten Statisten überaus genau choreographiert. Sie haben eine weißrosa geschminkte Haut und pastellfarbene Kleidung. Alle tragen einen trüben, traurigen, depressiven Gesichtsausdruck. Und doch ist das alles zusammen auf befremdende Weise schön anzusehen und strahlt etwas Artifizielles, mitunter Manieriertes aus. Manchmal wird nicht geredet, sondern gesungen.
„Eine Taube sitzt auf einen Zweig und denkt über das Leben nach“, ist ein sehr lustiger Film. Sein Humor ist allerdings oft sarkastisch oder verzweifelt oder zynisch. Man lacht selten ironisch, und nie mit den Figuren. Aber man lacht. Trotzdem ist die Stimmung keinesfalls heiter: Andersson zeigt oft Tod, menschliche Bosheit, Scheitern und Leiden, selten Liebe und Trost. Die Menschen sind böse und hässlich, ihr Treiben ist sinnlos. So wird alles zu einer Betrachtung über den Tod, unsere Ökonomie der offenen Rechnungen. Ein Dokument für den Selbsthass des Westens. Ein philosophischer Film, misanthropisch – vielleicht ist diese Misanthropie Teil des Problems –, aber auch berührend und schön. Eine kluge, wenn auch kalte Betrachtung über das Drama und die Absurdität der menschlichen Existenz.
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