Gerade erst startete mit „Everything Everywhere All at Once“ ein Film in den deutschen Kinos, der wie selbstverständlich die Existenz paralleler Welten behauptet. Jeder Mensch besitzt darin in den verschiedenen Universen jeweils ein Alter Ego und kann sich deren Fähigkeiten aneignen. Auch im „Marvel Cinematic Universe“ spielt dieses Thema seit einiger Zeit eine Rolle, etwa in der Serie „Loki“, in der der Titelheld mit „Varianten“ seiner selbst aus alternativen Zeitsträngen konfrontiert wird, im jüngsten „Spider Man“-Film „No Way Home“, in dem Stephen Strange durch eine Panne ein transdimensionales Tor öffnet, wodurch Bösewichter aus anderen Realitäten (sprich: anderen Spider-Man-Verfilmungen) auf die Erde gelangen, oder in der Animationsserie „What if…“, in der sich Strange in einer Episode auf fatale Weise darauf einlässt, am Zeitstrang herumzudoktern.
In „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ hat es das Thema jetzt sogar in den Titel geschafft, da es nicht zuletzt darum geht, von einer Parallelwelt in die andere zu gelangen. Allerdings muss man wissen, wie! Für den Protagonisten Doctor Strange (Benedict Cumberbatch) gilt es, Kontrolle über seine Fähigkeiten zu erlangen und zu entscheiden, wo er eigentlich hingehört. Sich die beste aller möglichen Welten aussuchen zu können, ist ein verführerischer Gedanke!
Eine Riesenkrake als ungebetener Hochzeitsgast
Fünfeinhalb Jahre ist es her, dass Stephen Strange in „Doctor Strange“ mit seinen magischen Fähigkeiten das Marvel-Universe betrat. Am Beginn des neuen Films macht sich Strange nach einem kurzen Prolog, der sich als Traum entpuppt, gerade für eine Hochzeit zurecht. Die Krawatte bindet sich von selbst, und man erwischt sich beim Gedanken, dass man so etwas auch gerne können würde. Die Braut ist ausgerechnet Christine Palmer (Rachel McAdams), Stranges Freundin, Kollegin und einstiges Love Interest, die nun aber einen anderen heiratet.
Doch mitten in den Feierlichkeiten sorgt eine übergroßer Krake mit riesigem Kopf und lediglich einem Auge für Unruhe auf den Straßen von Manhattan. Doctor Strange wirft sich geschickt seinen Mantel über („This is a cloak, not a cape!“) und springt vom Balkon, um sich dem Monster entgegenzustellen. Dabei ist ihm eine junge Frau mit dem sprechenden Vornamen America (Xochitl Gomez) behilflich. Dieses Mädchen, das ihm anfangs in seinem Traum erschien, besitzt die Fähigkeit, durch alternative Universen zu reisen. 72 unterschiedliche habe es schon kennen gelernt, dies sei das 73. Allerdings habe sie keinen Einfluss darauf, wann und wie sie die Welten wechsle. Problematisch ist nicht zuletzt, dass wegen der vielen offenen Portale zwischen den Welten ein riesiges, destruktives Chaos zu entstehen droht. Strange will deswegen eine ehemalige Avengers-Kollegin, Wanda Maximoff (Elizabeth Olsen) alias Scarlet Witch, um Hilfe bitten. Diese hatte sich nach den Erlebnissen in „WandaVision“ als liebende Mutter zweier Jungs allerdings aus dem Superheldengeschäft zurückgezogen.
Wenn Realitäten kollabieren
Sam Raimi, als Regisseur der ersten drei „Spider-Man“-Filme schon lange mit der Welt der Marvel-Comics vertraut, entwirft atemberaubende Bilderwelten, um das Multiversum zu visualisieren. Egal ob ein blumenumranktes, farbenfrohes Manhattan oder eine vereiste Berglandschaft, ein blühender Obstgarten, der sich in eine rotschimmernde Steppe verwandelt, oder eine weiße Wüste, in die Scarlet Witch eine rote Rauchwolke bläst – „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ sieht aufregend aus.
Einmal fallen Strange und America ungebremst durch mehrere Universen, unter denen sich auch eine Zeichentrick-Welt befindet, was eine extrem einfallsreiche Anbindung an die Comics ist! In der sogenannten „gap junction“, einem Raum zwischen den Welten, müssen die Protagonisten von einer freifliegenden Fläche zur nächsten hüpfen. Ein anderes Mal kollabiert die Realität, Autos hängen deshalb schwerelos in der Luft, während Häuser allmählich verschwinden. „Das ist unglaublich“, sagt jemand, und sein Gesprächspartner kann dies nur mit einem atemlosen „Yeah!“ bestätigen.
Action trifft Horror trifft Humor
Zur Attraktion des Films gehört auch die perfekt inszenierte Action, nicht nur im Kampf mit der Superkrake; Raimi nimmt auch die aus „Doctor Strange“ bekannten Duelle mit abwehrenden Schilden, die aus Lichtkreisen bestehen, wieder auf. Dabei findet der Regisseur immer raffinierte visuelle Lösungen. Einmal landet Scarlet Witch in einem ausgetüftelten Spiegelkabinett, dem sie nur entfliehen kann, weil sie ihre Kraft durch die Reflexionen vervielfacht.
Die Tode, die hier gestorben werden, sind grausam und erinnern an Raimis Anfänge als Horrorfilm-Regisseur. Doch mitunter geht es auch komisch zu; zahlreiche Anspielungen an die „Avengers“, „Fantastic Four“ und „X-Men“ verweisen immer wieder darauf, wie sehr die einzelnen Superhelden zu einem übergeordneten Ganzen, zu einer Gemeinschaft gehören. „Ist Amerika okay?“, fragt am Ende jemand, und man weiß nicht so recht, wer gemeint ist – das Land oder das Mädchen.
Außerdem enthält der Film eine der schönsten Liebeserklärungen der Filmgeschichte: „I love you in every universe!“, sagt Doctor Strange zu Christine. Kann eine Frau mehr verlangen?