Mein Lehrer, der Krake
Dokumentarfilm | Südafrika 2020 | 85 Minuten
Regie: Pippa Ehrlich
Filmdaten
- Originaltitel
- MY OCTOPUS TEACHER
- Produktionsland
- Südafrika
- Produktionsjahr
- 2020
- Produktionsfirma
- Netflix Original Documentary
- Regie
- Pippa Ehrlich · James Reed
- Buch
- Pippa Ehrlich · James Reed
- Kamera
- Roger Horrocks
- Musik
- Kevin Smuts
- Schnitt
- Pippa Ehrlich · Dan Schwalm
- Länge
- 85 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 10.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Porträt einer erstaunlichen Freundschaft zwischen dem Naturfilmer Craig Foster mit einem Kraken, von dem sich der Wissenschaftsjournalist einiges abschauen kann.
Der Hund ist unser bester Freund. Ohne Katzen wäre Youtube denkbar, aber sinnlos. Und ein Oktopus passt mit Knoblauch bestens als Tapa zum Rotwein! Menschen haben ihre Beziehung zu Tieren genauestens abgesteckt. Sie selbst sind die Krone der Schöpfung, der Rest ist Abwägungssache. Der Homo sapiens weiß, wann man zum Biozid oder doch eher zum Olivenöl greift und ein wollenes Leibchen für den kleinen Kläffer besorgt. Für die anderen Erkenntnisse gibt es ja die Naturdokumentationen im Fernsehen. Jene mit nie gesehenen und aufwühlender Musik untermalten Bildern. Oder die unbequemeren, etwa die von Jan Haft, der den Anrainern des Chiemsee schon mal erklärt, wie wichtig die gemeine Stechmücke für das Überleben des bayerischen Sees ist. Aber was soll einem bitte schön ein Krake beibringen?
Magisches Zusammentreffen im Algenwald
Der Filmemacher Craig Foster ist ausgebrannt. Obwohl er an der Westküste von Südafrika lebt und einen großen Teil seines Berufslebens in der freien Natur verbracht hat. Von der Kindheit seines Sohnes hat er viel zu wenig mitbekommen, vom Leben seiner Frau ganz zu schweigen. In dieser Situation entdeckt er die heilende Kraft des Wassers. Wo andere in Therapie gehen, kehrt Craig in die küstennahen Algenwälder seiner Kindheit zurück, in die sich sonst nur Robben, Otter und Haie verirren. Das Wasser ist dort viel zu kalt, zu unwirklich und rau, aber glasklar und unglaublich schön. Über ein Jahr habe er gebraucht, um sich an die mitunter einstelligen Temperaturen zu gewöhnen, wenn er ohne Neopren und nur mit der Luft seiner Lungen taucht. Hier findet Craig die Ruhe und all das, was wirklich wichtig ist. Doch mit dem, was da unter Muschelschalen, Seeigel-Skeletten und Algenresten im grobkörnigen weißen Sand kauert, hat er nicht gerechnet.
Ein kurzer Augenkontakt, und schon verschwindet das Tier in einer Wolke aus Tinte. Sein Körper passt bequem auf eine große Männerhand, auch wenn die acht Arme locker den ganzen Brustkorb umfassen könnten. Mal ist es schlammgrau, mal meliert oder eben mit Strandgut umhüllt – je nach Stimmung. Neben all der vielfältigen Flora und Fauna der Unterwasserwelt ist es dieses eine Geschöpf, das Craig hypnotisiert. Es ist neugierig und ängstlich, fordernd und vorsichtig und sucht dennoch verstohlen Kontakt zu diesem Eindringling mit zwei Schwimmflossen.
Eine menschlich-tierische Annäherung
Fast ein Jahr lang schwimmt Craig immer wieder durch die wundersame kleine Lichtung im Seetangwald, die der Krake als seine Heimat betrachtet. Mensch und Tier entwickeln Vertrauen zueinander. Während uns Craig sein Innerstes in bewegenden, ruhig gesprochenen Monologen offenbart, müssen wir glauben, dass die Gefühle nicht eingleisig funktionieren. Können Kraken mit Menschen fühlen? Man möchte es fast glauben, wenn sich der tierische Geselle an seinen nackten Brustkorb schmiegt und seine Hautfarbe chamäleonhaft von einem Schlamm- allmählich in einen menschlichen Hautton ändert – eine der vielen Gänsehautmomente des Films.
Natürlich erzählt Foster in „Mein Lehrer, der Krake“ eine von Regisseurin Pippa Ehrlich perfekt komponierte, fast schon disney-reife Geschichte. Dramaturgisch geschickt entfaltet sich ein Abenteuer vom seelenkranken Mann und dem kleinen Kraken, vom mühsamen „Sich-Finden“, der Konfrontationen mit gefräßigen Haien und einer nicht minder gefräßigen menschlichen Gesellschaft. Könnte kitschig sein, wenn es nicht so behutsam inszeniert wäre. Denn der Mensch bleibt hier Mensch und das Tier bleibt Tier. Eine Annäherung geschieht nur mit allem gebührlichen Respekt.
Bemerkenswerterweise geht die deutsche Synchronfassung des Films dabei sogar noch dezidierter vor. Während Foster im englischen Original die weibliche Krake mit „she“ (sie) anspricht, bleibt die deutsche Übersetzung beim „er“. Das ist nicht falsch gegendert, sondern der Versuch, der Vermenschlichung des Tieres entgegenzuwirken, auch wenn diese „Versachlichung“ des Tieres nicht der Intention des Erzählers entspricht, der mit dem „she“ eine fast schon intime Nähe zur Kreatur postuliert. Das ist erstaunlich, denn immerhin handelt es sich hier nicht um einen Hund, sondern um ein Wildtier, das nicht über Jahrtausende vom Menschen domestiziert und sozialisiert wurde.
Ehrenrettung des Oktopus
Bemerkenswert ist auch, dass es kein Delfin oder Elefant oder Bonobo oder eine andere für den Menschen zugängliche Tierart ist, sondern ein wenig possierliches Weichtier. Auch wenn es immer wieder Wissenschaftsreportagen gibt, in denen mit langweiligen Experimenten bewiesen werden soll, dass Kraken nicht dumm sind, haben die Kopffüßler ein eher schlechtes Image. Tragisch ist allerdings, dass sie Einzelgänger sind und sterben, wenn ihre Nachkommen geboren werden – daher können sie ihren Erfahrungsschatz nicht an ihre Sprösslinge weitergeben. So wird auch die Beziehung zwischen dem Kraken und dem Menschen auf tragische Weise singulär bleiben. Allerdings nicht ganz, denn – der Titel des Films deutet es an – hier lernt der Mensch vom Tier.
Craig Foster erzählt nicht nur seine (vielleicht kitschige) Geschichte vom Vater und Ehemann, der durch einen Kraken auf den „richtigen Weg“ gebracht wird und fortan gemeinsam mit seinem Sohn die Algenwälder durchschwimmt. Er erzählt vor allem die Geschichte vom Irrglauben, dass der Mensch die Krone der Schöpfung sei. Als Teil der Schöpfung habe er sich vielmehr zu integrieren; eine Zukunft auf Erden kann es nur zusammen mit allen Geschöpfen geben. Das versteht Foster dezidiert als Gegenargument zu all den radikalen Naturschützern, die den Menschen aus der Natur ausschließen wollen. In seinen Augen hat sich die Menschheit von der Natur entfremdet und kann sich nur retten, wenn sie wieder lernt, in ihr aufzugehen. Radikal denken heißt hier: die wahre Bedeutung von Kraken oder Stechmücken zu erkennen. Naturfilme, die dies schaffen, leisten so viel mehr als nur Zerstreuung mit schönen Bildern. Sie verändern die Welt.