Drama | Großbritannien/Frankreich/Deutschland/USA 2024 | 114 Minuten

Regie: Andrea Arnold

Ein 12-jähriges Mädchen aus einem ärmlichen britischen Arbeiterviertel fühlt sich von den Erwartungen seines Vaters eingeengt und eifert seinem kleinkriminellen Bruder nach. Die Bekanntschaft mit einem freigeistigen Vagabunden zeigt ihr neue Perspektiven auf. Das Jugenddrama bewegt sich zwischen Sozialrealismus und sinnlicher Poesie, wobei der Film durch die titelgebende Figur, die als bedeutungsschwere Allegorie dient, mitunter symbolisch überfrachtet wirkt. Er besticht aber durch seine authentisch raue, von einem gewissen Klassenstolz geprägte Figuren- und Milieuzeichnung. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
BIRD
Produktionsland
Großbritannien/Frankreich/Deutschland/USA
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
House Prod./Ad Vitam/Arte France Cinéma
Regie
Andrea Arnold
Buch
Andrea Arnold
Kamera
Robbie Ryan
Schnitt
Joe Bini
Darsteller
Nykiya Adams (Bailey) · Barry Keoghan (Bug) · Franz Rogowski (Bird) · Jason Buda (Hunter) · Joanne Matthews (Debs)
Länge
114 Minuten
Kinostart
20.02.2025
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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IMDb | TMDB

Jugenddrama um eine 12-Jährige aus ärmlichen britischen Arbeiterverhältnissen, die sich nach Freiheit und einem eigenen Leben sehnt.

Aktualisiert am
18.02.2025 - 12:36:33
Diskussion

Die 12-jährige Bailey (Nykiya Adams) greift regelmäßig zum Smartphone, um ihre Umgebung zu filmen. Manchmal versucht sie dadurch eine Gefahr abzuwenden. Etwa wenn der gewalttätige Freund ihrer Mutter drohend auf sie zukommt und sie ihm das Handy wie ein Schutzschild entgegenhält, mit der Warnung, alles zu dokumentieren. Gelegentlich nutzt das Mädchen das Smartphone aber auch als visuelles Tagebuch. Dann hält sie Momente fest, die sie fesseln, ohne dass sie diese Faszination in Worte fassen könnte. Wenn sie alleine ist, sieht sie sich diese Aufnahmen immer wieder an.

Wie die Vögel am Himmel

Die englische Regisseurin Andrea Arnold beginnt „Bird“ mit einem dieser Handy-Videos, mit dem zugleich die zentrale Metapher eingeführt wird. Bailey steht hinter einem Zaun und filmt durchs Gitter einen Vogel, der in der Luft seine Kreise zieht. Sie wirkt in diesem Augenblick wie eine Gefangene, die sich nach Freiheit sehnt. In seinem Alltag wird Bailey von ihrem Vater Bug (Barry Keoghan) zurückgehalten, der ihr verkündet, dass er seine neue Freundin heiraten will. Bailey hasst ihre neue Stiefmutter; zudem erdrückt ihr Vater sie mit allerlei Erwartungen. Wie sehr diese das Mädchen einengen, symbolisiert ein hautenges Glitzerkostüm, das Bailey für die Hochzeit tragen soll.

„Bird“ taucht regelrecht ein in das Leben und die Gefühlswelt seiner oft trotzig-wütenden, dann aber auch wieder neugierigen und verletzlichen Protagonistin. Sonnenstrahlen schimmern zu Beginn ins Bild, während die Kamera Bailey auf die Pelle rückt und man sie schwer atmen hört. Die Inszenierung ist sowohl sozialrealistisch als auch impressionistisch. Den von Armut, Drogenkonsum und häuslicher Gewalt geprägten Alltag eines heruntergekommenen Bezirks in der englischen Küstenstadt Gravesend fängt Arnold mit grobkörnigen Handkamerabildern ein, die Authentizität und Nähe vermitteln. Zugleich überhöht die Regisseurin die Geschichte aber mit poetischer Sinnlichkeit.

Für Bailey scheint der weitere Lebensweg bereits vorgezeichnet zu sein. Das Abrisshaus, in dem sie mit Bug und ihrem älteren Bruder Hunter (Jason Buda) lebt, verströmt die Atmosphäre eines Abenteuerspielplatzes, bietet aber keinerlei Perspektiven. Auf keinen Fall möchte Bailey für ihren Vater die süße Tochter sein und eifert stattdessen dem kleinkriminellen Hunter nach. Sie schneidet sich die Haare kurz, wodurch sie härter und jungenhafter wirkt. Am liebsten möchte sie sich ganz von ihrer Umgebung lösen. Auf euphorisierende Weise unabhängig fühlt sie sich erst, wenn sie im Meer untertaucht und für einen kurzen Moment ganz für sich ist.

Eine allegorische Figur

Arnold schickt ihre Protagonistin schließlich in die Arme eines durch die Welt wirbelnden Freigeists mit dem sprechenden Namen Bird (Franz Rogowski). Er trägt einen Rock, hat kein Handy und ist scheinbar von all jenen gesellschaftlichen Zwängen entbunden, die Bailey einengen. In ihm bündelt sich die Sehnsucht der Protagonistin. Doch selbst nachdem der Film Bird eine rudimentäre Biografie verpasst hat, bleibt die Figur eine bedeutungsschwere Allegorie, die am Ende auch noch ins Fantastische gehoben wird.

Glücklicherweise wird Rogowskis Figur immer wieder an den Rand gedrängt. Denn sie verkörpert zwar eine etwas kitschig-ursprüngliche Vorstellung von Freiheit, doch für den Film entscheidend ist die familiäre Geborgenheit. Diese Fürsorge entspricht in der Welt von „Bird“, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist und minderjährige Eltern eher die Regel als die Ausnahme, allerdings keinen bürgerlichen Idealvorstellungen. Das zeigt sich vor allem an Bug, der selbst gerade mal 30 Jahre alt, aber nie wirklich erwachsen geworden ist. Barry Keoghan spielt diese ungewöhnliche Vaterfigur impulsiv, unvernünftig, aber auf eine ungelenke Art auch liebevoll. Mit freiem, Oberkörper rast er auf dem Elektroroller durchs Viertel, versucht mit einer Kröte, die ein berauschendes Sekret absondert, die Kosten der Hochzeit zu stützen oder grölt mit seinen Kumpels angetrunken und sentimental Pop-Hymnen von Blur oder Coldplay.

Ein gewisser Klassenstolz

Das raue Setting verleiht der Film etwas Großes und Erhabenes. Mit ihren Trainingsanzügen, großflächigen Tattoos, der dick aufgetragenen Schminke und den knappen Sport-Tops verkörpern die Figuren einen proletarischen Style, der stolz und majestätisch wirkt. „Bird“ ist zwar in gewisser Weise ein Märchen, kokettiert aber mit seinem Realismus. Im Abspann versammeln sich Darsteller und Anwohner des Viertels zu einer ausgelassenen Nachbarschaftsparty, bei der sie provokativ in die Kamera singen: „Ist das zu echt für euch?“.

 

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