Wenn die Handlung einsetzt, ist Vincent van Gogh schon seit einem Jahr tot. Und zugleich vitaler denn je, denn der genuine Blick des Malers auf die Welt hat ihn überlebt: In „Loving Vincent“ erstrahlen die Orte und ihre Bewohner in den Farben und im Pinselstrich des verstorbenen Meisters (1853-1890). Die animierte Hommage besteht aus 65.000 in Öl gemalten Einzelbildern, für die 130 Van-Gogh-Gemälde aus seinen späten Schaffensjahren Pate standen, von der „Sternennacht“ über das „Weizenfeld mit Krähen“ bis hin zum „Porträt des Dr. Gachet“.
125 Künstler waren mit der Mammutaufgabe beschäftigt, die Bilder für den Film zu fertigen. Auf der Leinwand, mit einer hochauflösenden Digitalkamera abgefilmt, wirken sie schlicht umwerfend. Die Erzählung des Films kann da nicht mithalten. Die Handlung kreist um einen ziemlich blassen Protagonisten namens Armand Raulin. Der Sohn des mit van Gogh befreundeten (und von ihm porträtierten) Postmanns Joseph Raulin erhält von seinem Vater den Auftrag, einen eben erst aufgetauchten Brief des Toten an dessen Bruder Theo zu überbringen. Widerwillig nimmt Raulin den Auftrag an, kann den Brief aber nicht zustellen, da Theo mittlerweile auch verstorben ist.
Durch seine Nachforschungen aber beginnt Raulin, sich für van Gogh und dessen Schicksal zu interessieren. Er reist von Paris ins Dorf Auvers-sur-Oise, wo der Maler die letzten Jahre verbrachte. Er möchte den Arzt Dr. Gachet befragen, der van Gogh behandelte. Da der Mediziner zunächst aber abwesend ist, mietet sich Raulin in jenem Gasthof in Auvers ein, in dem auch van Gogh wohnte, und beginnt sich im Ort umzuhören und mit Menschen zu sprechen, die den Künstler kannten. Was er dabei erfährt, lässt ihn misstrauisch werden, ob der Maler, wie behauptet wird, sich tatsächlich mit einer Schusswaffe das Leben genommen hat. War es nicht vielmehr ein Unfall? Oder gar ein Mord?
Von seiner Erzählstruktur her ist „Loving Vincent“ damit eigentlich ein Dorfkrimi, der über der Recherche nach dem Ende von van Gogh Zeitgenossen in den Fokus rückt, die aus seinen Gemälden bekannt sind und die ihre individuellen Einschätzungen über den Maler kundtun. Diese kriminalistische Geschichte, in die Rückblenden auf das Leben von van Gogh eingeflochten sind (die als Schwarz-Weiß-Zeichnungen im Stil alter Fotografien umgesetzt sind, da es dafür keine Bildvorlagen van Goghs gibt), entfaltet nur wenig Spannung, und die Auflösung des „Falls“ spielt letztlich keine Rolle. Es geht einzig um einen erzählerischen Vorwand für die spekulative Beschwörung des Mythos vom verkannten Genie, dessen Kunst Orte und Menschen adelt, indem es sie in einem ganz neuen, strahlenden Licht erscheinen lässt, dem dafür aber die Anerkennung versagt blieb.
Obwohl die Filmemacher Dorota Kobiela und Hugh Welchman gründliche Recherchen angestellt und vor allem in den Briefen van Goghs eine wichtige Inspirationsquelle gefunden haben, wirkt das von ihnen gezeichnete Bild des Künstlers arg verklärt und holzschnittartig, ganz wie eine breit ausgewalzte Version von Don McLeans Van-Gogh-Hymne „Vincent (Starry Starry Night)“ aus dem Jahr 1971 – die auch prompt über dem Abspann liegt.
Gut gelingt es dem Film dagegen, den ländlichen Kosmos von van Goghs letzten Lebensjahren zu beleuchten und dank der atemberaubenden Bilder die schiere Schönheit seines künstlerischen Universums zu feiern. Aus der Fülle der Bilder van Goghs erschafft die Inszenierung eine enorm stimmige filmische Welt. Die auftretenden Figuren wurden zunächst von Schauspielern vor nachgebauten Van-Gogh-Kulissen oder Green-Screens fotografiert und anschließend von den Malern animiert, was mit dazu beiträgt, dass die einzelnen Gestalten tatsächlich wie echte Charaktere und nicht nur wie wandelnde Van-Gogh-Porträts wirken. Als Künstlerdrama besitzt der Film zwar längst nicht die emotionale Wucht von Vincente Minnellis Porträt „Vincent van Gogh – Ein Leben in Leidenschaft“ (fd 5870), doch als berauschende Liebeserklärung ans bahnbrechende Oeuvre van Goghs ist er überaus gelungen.