Fragend schaut der Junge nach oben, die großen Augen auf ein Ziel außerhalb des Gemäldes gerichtet. Nur sein Kopf und sein Oberkörper sind auf dem kleinformatigen Bild zu sehen, das problemlos in ein Postpaket hineinpasst; die Hintergründe sind abstrakt in graugrünen und braunen Tönen gehalten, von denen sich die Gestalt des Kindes abhebt. Der Junge ist namenlos, genauso anonym wie der Maler des Porträts, das auf dem Kunstmarkt dennoch einiges wert wäre.
Dieses Gemälde scheint das passende Geschenk eines unbekannten Vaters an seinen Sohn zu sein, der erst mit Anfang 30 Details über die Umstände seiner Geburt erfährt. Seine verstorbene Mutter hatte Mathieu nur Unverbindliches über eine Liebesnacht mit einem Fremden erzählt, sodass er irgendwann nicht weiter nachfragte; erst ein Anruf aus Kanada erinnert den Franzosen an die unklaren Punkte in seinem Leben: Sein jüngst verstorbener Vater sei in Montreal ein angesehener Arzt namens Jean gewesen; sein Vermächtnis an Mathieu sei das Gemälde. Darüber hinaus brauche der junge Mann sich eigentlich nicht weiter um die Person des Verstorbenen zu kümmern, sagt der Anrufer, Jeans Kollege und bester Freund Pierre. Doch Mathieu reicht das nicht. Kurzerhand bricht er nach Kanada auf, um an der Beerdigung teilzunehmen.
Mathieus Reise auf den eigenen Lebensspuren mit ungewissem Ausgang gibt dem Film des französischen Regisseurs Philippe Lioret seine Struktur. Am Anfang steht die mit wohlgesetzten Strichen knapp skizzierte Figur von Mathieu, für den der Ortswechsel ein willkommener Einschnitt in sein unbefriedigendes Leben ist. Statt seine Schriftstellerträume auszuleben, hängt er in einem öden Büro fest; seine Frau hat sich von ihm getrennt, für den gemeinsamen Sohn bleibt nie genug Zeit. Warum also nicht über die Begegnung mit der Familie seines Vaters das Leben noch einmal quasi neu beginnen?
Doch als Mathieu in Kanada eintrifft, ist sein Vater so wenig greifbar wie eh und je. Eine Leiche gibt es nicht, denn der herzkranke Jean soll bei einem Angelausflug an einem einsamen See einen Infarkt erlitten haben und aus dem Boot gefallen sein; von einer Begegnung mit der trauernden Familie rät der verschlossene Pierre dringend ab. Schließlich stimmt er zumindest einer verhüllten Kontaktaufnahme zu: Gemeinsam mit Jeans Söhnen wollen Pierre und Mathieu als ein „junger Freund aus Frankreich“ rund um den See nach dem Körper des Toten suchen. Die Brüder entpuppen sich allerdings als wenig sympathische Zeitgenossen, wie auch das Bild von Jean immer negativer wird, je mehr Einzelheiten Mathieu über ihn erfährt.
Zugleich aber wächst die Vertrautheit des „verlorenen Sohns“ mit Pierre, der die Enttäuschung des Jüngeren zu mildern versucht und dabei unbewusst immer deutlicher durchblicken lässt, dass er Mathieu entscheidende Informationen vorenthält. Dieses Motiv des ungleichen Gespanns aus einem in sich gekehrten, aber mitfühlenden sowie einem unsicheren, Halt suchenden Mann, das unter widrigen Umständen zur Freundschaft findet, hat Lioret schon in seinen früheren Filmen „Die Frau des Leuchtturmwärters“
(fd 37 097) und „Welcome“
(fd 39 718) eindrücklich durchgespielt. Auch das waren Erzählungen über Familien, die sich beharrlich gegen ihren Zerfall stemmten, und über das Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Nähe, jedoch eingebettet in Szenarien, die auch Kritik an einer feindseligen Gesellschaft übten.
Solche Impulse fehlen in „Die kanadische Reise“; Lioret hat den Plot bewusst einfach angelegt und konzentriert sich ganz auf die emotionale Suche seiner Hauptfigur nach ihrem Platz im Leben. Dass ihm das einmal mehr vortrefflich gelingt, verdankt sich einem außerordentlichen Gespür für Details, scheinbar beiläufig ausgesprochenen Sätzen mit tieferer Bedeutung und einer hochsensiblen Schauspielführung. Neben dem kanadischen Altstar Gabriel Arcand, der präzise vermittelt, wie Pierre sich mit seiner ungewollten Rolle als Geheimnisträger und Mentor arrangiert, erweist sich Pierre Deladonchamps nach seinem Kino-Durchbruch in „Der Fremde am See“
(fd 41 911) erneut als aufmerksamer Spezialist für leise Töne. Als Zuschauer rückt man so hautnah an Mathieus Enttäuschung und Hoffnung heran, in einem ruhig dahingleitenden Film, der sich betont einfach gibt, dabei aber klug und unaufdringlich von der Komplexität der Gefühle erzählt.