In Matera reicht ein einziger Quadratkilometer für einen kompletten Jesusfilm. Die rund 200 Kilometer östlich von Neapel in der süditalienischen Region Basilikata gelegene Stadt ist als Kulisse für Jesusfilme berühmt geworden. Dabei galt Matera lange als Schandfleck Italiens. Noch in den 1950er-Jahren lebte ein Teil der Bevölkerung in den „Sassi“ genannten Höhlenwohnungen, ohne Elektrizität oder sanitäre Anlagen; die Menschen schliefen neben den Tieren. 1958 wurden alle Höhlenbewohner von der Regierung zwangsumgesiedelt. Damit begann für Matera eine neue Zeit. Pier Paolo Pasolini drehte hier einen Großteil von „Das 1. Evangelium – Matthäus“ (1964), auch Mel Gibsons „Die Passion Christi“ (2004) entstand überwiegend dort; doch auch in Großproduktionen wie „Wonder Woman“ oder dem neuen James-Bond-Film „Keine Zeit zu sterben“ hat die Stadt einen Auftritt.
Passion, Making of & Polit-Aktionen
Heute finden sich noch immer Löcher von vergangenen Dreharbeiten im Boden, in die man praktischerweise das Kreuz hineinstellen kann. „Wenn wir dort drehen, machen wir einfach Klick, und es sitzt fest“, erklärt der Theatermacher Milo Rau seinem schwarzen Jesusdarsteller Yvan Sagnet am Beginn von „Das Neue Evangelium“. Der Film ist aus einer Einladung anlässlich der Wahl Materas zur Europäischen Kulturhauptstadt 2019 hervorgegangen. Bei Rau mischt sich die Passionsgeschichte mit dem „Making of“ und einer politaktivistischen Dokumentation.
Was für Pasolini Anfang der 1960er-Jahre die Lage des Subproletariats in Süditalien war, ist für Rau heute die Situation der Geflüchteten, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben über das Mittelmeer nach Europa kamen und sich nun auf den Tomatenfeldern unter menschenunwürdigen Bedingungen kaputtarbeiten. Der gebürtige Kameruner Yvan Sagnet kennt das mafiöse System der Agrarwirtschaft aus eigener Erfahrung; sogenannte Caporali rekrutieren illegal Arbeiter und zwingen sie in sklavereiähnliche Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse. Bei der Tomatenernte erlebte Sagnet, wie ein Freund aus Erschöpfung zusammenbrach, der „Aufseher“ aber verweigerte die Hilfe und drohte stattdessen mit einer Geldstrafe.
2011 organisierte Sagnet den ersten Streik ausländischer Arbeiter in der italienischen Landwirtschaft. Inzwischen ist er Immigrationsbeauftragter des italienischen Gewerkschaftsbundes CGIL-Flai und macht im Rahmen seiner Stiftung „No Cap“ Aufklärungsarbeit.
Yvan Sagnet und die Jesus-Figur
In „Das Neue Evangelium“ vermischt sich der Politaktivist Sagnet mit dem Sozialrevolutionär Jesus, der seine Anhängerschaft an den Rändern der Gesellschaft rekrutiert. „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann“, heißt es aus dem Off. Die Worte hallen unmittelbar in der Wirklichkeit wider, wenn sich der Film in die slumartigen Unterkünfte der Geflüchteten begibt: aus Brettern und Plastikplanen notdürftig zusammengezimmerte Hütten, zerbeulte Autos, Müll; es gibt weder Wasser noch Strom noch eine medizinische Versorgung; niemand besitzt eine Arbeitserlaubnis. Für 30 Euro pro Tag ernten die Männer hier Tomaten und Orangen, viele der Frauen überleben gerade so mit Prostitution.
Die Frage, was Jesus tun und sagen würde, wenn er heute lebte, wurde durch die Zeiten immer wieder neu gestellt. Im Unterschied zu Pasolini interessiert sich Rau für die Jesus-Figur aber nur am Rande. Er eignet sie sich eher als einen referenziellen Rahmen an, um an seiner ständig weiterwachsenden Erzählung über die globale Ausbeutung – im Kongo, in Ruanda, Südamerika, Syrien etc. – weiterzuschreiben.
So ist der Film-im-Film, der geschlossen in sich bleibende Jesusfilm, auch der am wenigsten überzeugende Part in „Das Neue Evangelium“. Interessanter ist der Film dort, wo die Behauptung „Ich als Jesus“ sichtbar bleibt und die biblische Figur tatsächlich nur noch Hülle und Zeichen im Zuge einer Protestbewegung ist: Etwa wenn Jesus und seine Jünger auf Tomaten herumtreten und im Supermarkt die Berge der viel zu billigen Tomatenkonserven zum Umsturz bringen. Oder wenn Sagnet/Jesus gemeinsam mit aus Matera stammenden Kleinbäuerinnen und -bauern auf den Straßen die „Revolte der Würde“ ins Leben ruft, eine politische Kampagne, die für die Rechte von Migrantinnen und Migranten kämpft.
Mit geschlossener Faust
Mitunter kommt es unter den Protestierenden, denen sich auch Kleinbauern angeschlossen haben, die von den großen Agrarunternehmen in den Bankrott getrieben wurden, zu Meinungsverschiedenheiten. Einmal empört sich ein weißer Bauer über das ungleich verteilte Rederecht; der Film geht dem Konflikt jedoch nicht weiter nach. Auch eine Szene, in der ein junger Italiener als römischer Folterknecht vorspricht und sich in einer rassistischen Beleidigungsorgie regelrecht verausgabt, bleibt ohne Kontext und gefällt sich allzu sehr in ihrer Ambivalenz von authentischer Rede und Rollenprosa. In solchen Momenten offenbaren sich die eher unangenehmen Seiten von Milo Raus Projekt: das Interesse an politaktivistischen „Reizen“ und spekulativen Effekten ist oftmals größer als die geduldige und differenzierte Betrachtung. Dabei kann diese mitunter auch wie nebenher geschehen – etwa in den aufrichtigen Liedern des Singer-Songwriters Enzo Del Re, einer der radikalsten Figuren der Musikszene der 1970er-Jahre. Lieder wie „Lavorare con Lentezza“ (Mit Langsamkeit arbeiten) klingen wie Gegenwartsbeschreibungen: „Arbeite langsam/Ohne Anstrengung/Wer schnell ist, wird verletzt/Und landet im Krankenhaus /Im Krankenhaus ist kein Platz... Ich grüße dich mit geschlossener Faust/in meiner Faust liegt der Kampf“.