Der Weg des Esels beginnt in rot pulsierendem Stroboskoplicht. Eine junge Frau beugt sich über den Kopf des Tieres, das auf dem Rücken liegt, die Hufe in die Höhe gestreckt. „EO! EO!“, ruft sie, beschwörend, und tatsächlich rappelt sich der Esel, der nach seinem eigenen Schrei benannt ist, nach einer Weile auf. So leicht ist EO nicht unterzukriegen. Nicht in der Zirkusmanege, wo wir uns eingangs befinden, nicht auf dem Schrottplatz, wo man ihn gleich darauf, vor einen Karren gespannt, wiedertrifft, nicht in verschneiten polnischen Wäldern, nicht am Rand eines Amateurliga-Fußballspiels, nicht zwischen massiven LKWs, Prostituierten und Halsabschneidern auf einer Autobahnraststätte, nicht im sonnenbeschienenen Garten einer italienischen Villa. Wohin auch immer es EO verschlägt: Esel bleibt Esel. Beziehungsweise: Esel bleibt sechs Esel – ein halbes Dutzend unterschiedliche Tiere verkörpern EO laut Abspann im Lauf des von Jerzy Skolimowski inszenierten Films.
Die Musik ist ein Geschenk an den Esel
Der Weg des Esels ist ein musikalischer Weg. Eine gleichmäßig sanfte, warme Gitarren-Oktave liegt über den ersten Bildern, bald treten andere Stimmen hinzu, ein wuchtiges, tiefes Bläserintervall, ein Streicher-Sehnsuchtsschrei in höherer Tonlage. Später weicht die zumeist orchestrale Instrumentierung gelegentlich elektronischen Sounds. Was bleibt, ist die elegische, repetitive Anmutung – keine erzählerische Musik ist das, eher eine malerische – und die Erkenntnis, dass die von Paweł Mykietyn komponierte Filmmusik dem Esel gehört. Wendet sich der Film den Menschen zu, treten die geformten, dem Reich des idealisierten Schönen entstammenden Klänge zugunsten der banalen, schroffen Akustik der empirischen Welt fast immer in den Hintergrund. Die Musik ist ein Geschenk des Films an den Esel. Ob er sie hören oder sonst etwas mit ihr anfangen kann, wissen wir freilich nicht.
Der Weg des Esels evoziert den Weg eines anderen Esels. Weniger als ein Remake von denn als eine Hommage an Robert Bressons „Zum Beispiel Balthasar“ möchte Jerzy Skolimowski seinen neuen Film „EO“ verstanden wissen. 1966, als Bressons Meisterwerk des menschheitsskeptischen Tierfilms in die Kinos kam, hatte Skolimowski selbst bereits mit seinen frühen polnischen Filmen auf sich aufmerksam gemacht und stand kurz vor dem internationalen Durchbruch. Heute ist er einer von sehr wenigen noch aktiven Veteranen der goldenen Jahre des europäischen Autorenkinos. „EO“ ist aber keineswegs eine nostalgische Unternehmung. Der Weg des Esels ist ein gegenwärtiger Weg, einer durch das Europa und auch durch das Kino der Gegenwart.
So ist der Weg des Esels im Jahr 2022 ein deutlich einsamerer Weg als der Weg des Esels im Jahr 1966. Balthasar war seinerseits Teil, vielleicht auch Menetekel einer Dorfgemeinschaft. Ein geknechtetes Nutztier, dessen Qualen auf die Härten einer ländlich geprägten Lebensweise verwies, auf die Mühen, die die Unterordnung der Natur durch den Menschen einst auch für den Menschen bedeutet hatte. Balthasars Schmerzen hatten etwas mit seinem Gebrauchswert zu tun. EO hingegen hat höchstens ganz am Anfang, im Zirkus, einen Gebrauchswert. Das Band, das Mensch und Tier im Zirkus verbindet, mag man als ein Gewaltverhältnis beschreiben; aber wenn sich die Artistin, die sich zu Filmbeginn im rot pulsierenden Zirkuszelt über den Esel beugte, schließlich von EO verabschiedet, sind die Tränen in ihren Augen echt.
Weil sie nichts Besseres zu tun haben
Der Zirkus ist heute ein Anachronismus. Gemeinsam mit dem Zirkusbesitzer absolviert EO einen Spießrutenlauf durch eine Demonstration von Tierschützern, die gegen sein Leid protestieren, und doch nicht angeben können, was für einen Platz Tiere ansonsten haben könnten in unserer Gegenwart. Kurz danach wird EO verkauft und befindet sich fortan in einer Welt, die ihm genauso indifferent gegenübersteht wie er ihr. Die wenigen Menschen, die sich seiner annehmen, tun das aus einer Laune heraus, oder auch weil sie selbst nichts Besseres zu tun haben. Weil sie in der Einsamkeit des Esels ihre eigene Einsamkeit gespiegelt sehen. Im Europa des Jahres 2022 sind Eselgeschichten Außenseitererzählungen. Die freilich dezidiert fragmentarisch bleiben und nicht selten mit einem lakonischen Knalleffekt enden.
Der Weg des Esels degradiert alles Menschliche zur Episode. Der Weg des Esels führt am Ende immer nur zum Esel. Das Besondere an diesem Tier, denkt man irgendwann, hat mit seinen Augen zu tun. Wie bei Pferden oder Kühen liegen sie eher seitlich als frontal am Kopf. Wenn ein Esel von vorn gefilmt wird, und in „EO“ geschieht das oft, scheint einen das Tier deshalb gleichzeitig an- und an einem vorbeizuschauen. Wenn sich die Kamera hingegen für ein Auge und also eine Kopfseite entscheidet, bleibt die andere logischerweise außen vor. Den ganzen Esel bekommt der Blick nicht zu fassen. Es gibt ein Reservoir der Privatheit im Esel, das sich der Annäherung an ihn widersetzt. Mit einem Esel kann man keine TikTok-Katzenvideos drehen.
Pferde sind keine Esel
Das wird freilich nicht das ganze Geheimnis des Esels sein. Schon weil für Pferde das gleiche gelten sollte. Tatsächlich sind auch Pferde hochgradig private, verschlossene Geschöpfe. Aber Pferde sind keine Esel, und „EO“ zeigt, dass das keine zufällige, sondern eine fundamentale Differenz ist. Die vielleicht schönste Sequenz des Films beginnt damit, dass EO, selbst in einen Viehanhänger gesperrt, einen Blick auf eine Gruppe von Pferden erhascht, die über eine Wiese galoppieren. Diesem Blick folgend und also die Subjektivität des Esels übernehmend – eine weitere krasse Differenz zu Bresson, für dessen stets nur über die physische Erscheinung die Transzendenz anvisierenden Filme schon das Innenleben von Menschen, erst recht das von Eseln unzugänglich ist – schwebt die Kamera zu den kraftvoll ins Freie eilenden Geschöpfen, gleitet mit einem fast schon fetischisierenden Blick an ihrer glänzenden Haut und der exakt definierten Muskulatur entlang.
Ein wenig später wird EO im Stall neben einem majestätischen, wie von innen leuchtenden Schimmel einquartiert. Ein paar Minuten lang scheinen sich die Grenzen zwischen Esel und Pferd, zwischen realen und imaginären Tierkörpern in ein phantasmagorisches Licht-und-Schattenspiel aufzulösen. Das Pferd ist, so scheint es, das unerreichbare Ich-Ideal des Esels. Wo der störrische Esel höchstens passiv Widerstand leistet, da sträubt sich das Pferd viel direkter, in seiner ganzen Körperlichkeit, gegen die Knechtschaft des Tieres in der Welt der Menschen. Real ist das Pferd nicht weniger hilflos als der Esel, und doch scheint im Aufbäumen des Schimmels die Ahnung einer Freiheit auf, die EO am eigenen Leib nicht mehr zu spüren vermag. Im Blick des Esels auf das Pferd formt sich das Versprechen auf eine bessere Welt.