Es steht nicht gut um das polynesische Inselparadies Motonui. Die Kokosnüsse faulen, die Fischvorräte gehen zurück. Eigentlich wäre es höchste Zeit, sich auf die Suche nach neuen Nahrungsquellen zu machen, um die Insel und deren Bewohner zu retten. Doch der Häuptling ist strikt dagegen. Schon lange hat es niemand mehr gewagt, über das gefährliche Riff in den weiten Ozean hinaus zu segeln. Von solchen Ausflügen handeln nur noch die Legenden der Vorfahren. Doch Vaiana, die Tochter des Stammesoberhauptes, die von Kindesbeinen an auf magische Weise mit dem Ozean verbunden ist, will sich nicht an seine Vorgabe halten. Bald wird sie, wie es ihre Großmutter prophezeit hat, aufs offene Meer segeln, um den sagenumwobenen Halbgott Maui zu suchen. Der soll für die Misere der Motonui mitverantwortlich sein, weil er einer Inselgottheit das Herz gestohlen habe – und soll Vaiana deshalb bei ihrer Mission unterstützen.
Kanus und Palmen, Sandstrände und azurblaues Meer, eine Vielzahl an Gottheiten, die in westlichen Kulturen unbekannt sind, ein reiches Netz an Mythen und eine naturverbundene Lebensweise, die sich nicht deutlicher vom Alltag in Industrieländern unterscheiden könnte: „Vaiana“ bedient eine Unmenge klischeehafter Paradiesbilder. Die Filmemacher haben sich sichtlich von den exotischen Schauwerten inspirieren lassen: Sonne satt statt dunkler europäischer Märchenwälder oder düsterer Großstädte. Und tatsächlich sind es die Oberflächenreize, die für „Vaiana“ einnehmen und Lust auf das Seeabenteuer machen. Zugleich aber dienen die schönen Settings und die nur grob angerissenen Einblicke in den mythischen Kosmos und die Traditionen einer anderen Kultur wirklich nur als Kulisse – und das unterscheidet „Vaiana“ deutlich von anderen Animationsfilmen, etwa „Das Geheimnis von Kells“
(fd 41 418) oder „Die Melodie des Meeres“
(fd 43 512), beide inszeniert von Tomm Moore, in denen es wirklich um die Darstellung kultureller Authentizität geht.
„Vaiana“ stellt dafür etwas anderes mit den Figuren an. Der Film modernisiert sie und ordnet sie seiner Geschichte unter. Der Halbgott Maui ist deshalb kein Ehrfurcht gebietendes Wesen, sondern ein mit großer Lust an der Übertreibung inszenierter Sidekick, der weniger als tragische Figur überzeugt denn als Abrechnung mit arrogantem, selbstverliebtem Machogehabe, was erfolgreich männliche Helden- wie Rollenbilder unterläuft. Ein Hansdampf erster Güte, im Original treffend gesprochen von Actionstar Dwayne Johnson. Mit der Protagonistin Vaiana hat der Film zudem eine starke Protagonistin, die als willensstarker Trotzkopf mit aller Macht um ihren Platz in einer patriarchalen Gesellschaft kämpft und sich in dieser behaupten will. Die 16-jährige Vaiana erinnert nicht nur an die Protagonistin in Niki Caros berührendem Coming-of-Age-Film „Whale Rider“
(fd 36 092), sondern bietet auch jungen Zuschauerinnen ein schönes Rollenmodell an. Wenn sie die väterlich gesetzten Grenzen überschreitet, um Neuland zu entdecken und sich freizuschwimmen, dann ist das zwar kein neues, aber ein schönes Bild für ihre ersten Schritte in die Unabhängigkeit des Erwachsenenlebens.
Ron Clements und John Musker – die schon seit den 1980er-Jahren zusammenarbeiten, unter anderem bei „Basil, der große Mäusedetektiv“
(fd 25 941), „Aladdin“
(fd 28 601), „Arielle, die Meerjungfrau“
(fd 28 601) oder „Küss den Frosch“
(fd 39 614) gemeinsam Regie führten – betten zahlreiche Gesangsszenen in die Handlung ein, die die eindrucksvoll animierte CGI-Animation zu einem Musical in klassischer Disney-Tradition machen, im besten Fall die Bildlogik aufbrechen und den Film für kurze Momente zu einem verspielten Videoclip werden lassen. Als schwung- und fantasievoller Abenteuerfilm vor exotischer Kulisse und mit Figuren, die im Gedächtnis bleiben, funktioniert „Vaiana“ prächtig, auch wenn ihm eine gewisse kulturelle Feinfühligkeit vielleich fehlt. Was passiert wäre, wenn Taika Waititi, der die ersten Drehbuchfassungen schrieb, bis zum Ende mitgearbeitet hätte, bleibt leider Wunschdenken. Es wäre zu spannend gewesen, was der schräge Humor des eigenwilligen neuseeländischen Regisseurs („5 Zimmer Küche Sarg“,
(fd 42 664)) aus diesem Disney-Film gemacht hätte.