Es ist ein befremdliches Szenario, mit dem dieser Film beginnt: In den Großraumbüros einer Investmentbank an der Wallstreet sind die „Rausschmeißer“ unterwegs, wie man sie aus „Up in the Air“
(fd 39 710) kennt, also Menschen, deren Job es ist, andere Menschen im Auftrag ihrer Firma zu feuern, effizient und ohne große Szenen. Als die Reihe an Eric Dale, einem leitenden Mitarbeiter, ist, sieht man seinem Gesicht die Versuchung an, diese pervertiert-absurde Form von Professionalität durch einen wütenden Ausbruch zu torpedieren. Doch Dale wahrt die Fassung, steht kurz darauf mit einer Kiste mit seinen privaten Sachen vor der Tür des Hochhauskomplexes – und beschränkt sich darauf, sein gesperrtes Firmenhandy auf dem Pflaster zu zertrümmern. Die übrigen Kollegen, die dem Entlassungszeremoniell betreten und möglichst unauffällig zugesehen haben, werden kurz darauf von ihrem Abteilungsleiter mit einer Motivationsrede wieder an die Arbeit geschickt. Sentimentalitäten haben in der Welt der Hochfinanz nichts verloren. Gleichzeitig wirkt das, was hier geschieht, all seiner wohlorganisierten Nüchternheit zum Trotz wie ein irrsinniges Spiel, ein aufgeblasenes „Mensch ärgere Dich nicht“. Und bald wird in noch größerem Rahmen mit Existenzen gezockt werden. Der Film spielt am Vorabend des großen Crashs der Finanzmärkte von 2008. Peter Sullivan, ein junger Analyst aus Dales Team, bekommt von seinem Vorgesetzten kurz vor dessen Abgang einen USB-Stick mit brisanten Daten in die Hand gedrückt. Was Sullivan bei deren Analyse herausfindet, ist katastrophal: Die Bank hat mit „faulen“ Finanzprodukten eine riesige Blase produziert, die nun kurz vorm Platzen ist. Und wenn das passiert, dann steht nicht nur das Bankhaus vor dem Aus, sondern es wird auch dramatische Konsequenzen für den Finanzmarkt haben. Wie nun reagieren? Der Chef des Bankhauses, John Tuld, will von dem sinkenden Schiff mitnehmen, was noch geht: Gleich am nächsten Morgen muss verkauft werden, was sich verkaufen lässt, und dann mag die Sintflut kommen. Tulds Mitarbeiter müssen entscheiden, ob sie dieses zweifelhafte Spiel mitspielen und dabei noch einmal kräftig verdienen wollen oder nicht.
Wie eine klassische Tragödie stellt „Margin Call“ seine Figuren innerhalb eines engen Rahmens – der Film spielt fast nur im Inneren der Investmentfirma und konzentriert sich auf eine Phase von ca. 24 Stunden – vor eine schwere moralische Entscheidung. Während vor den großen Fensterfronten die Stadt als anonymes Lichtermeer glitzert, müssen Verantwortungen und ethische Prinzipien gegen den Eigennutz abgewogen werden. Dabei wartet „Margin Call“ mit einer Reihe furioser Porträts auf, für die dem Regiedebütanten J.C. Chandor aufgrund seines hervorragenden Drehbuchs eine ganze Kohorte von „Hollywood‘s Finest“ zur Verfügung standen – u.a. Jeremy Irons, Kevin Spacey, Stanley Tucci und Paul Bettany sowie Nachwuchsstar Zachary Quinto, der auch als Produzentzum Entstehen des Films beigetragen hat und damit in die Fußstapfen von produzierenden Star-Kollegen wie George Clooney tritt, ohne die ein US-Qualitätskino jenseits der Blockbuster kaum noch Chancen hat.
In „Margin Call“ geht es nicht darum, die Verkommenheit der Banker anzuprangern: Anders als in Michael Moores Doku „Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte“
(fd 39 562) sind die Finanzjongleure nicht die „bösen Anderen“. Sie sind, wie in Hochhäuslers „Unter dir die Stadt“
(fd 40 375), Figuren, an denen sich beispielhaft Dinge erzählen lassen, die uns alle betreffen. Dabei geht es um Ohnmachtsgefühle gegenüber anonymisierten Konzern- und Marktstrukturen, die den einzelnen bedrohen. Die ihn aber auch entlasten, wenn es gilt, Entscheidungen oder auch schlicht einen Lebensstil zu rechtfertigen, von denen man weiß, dass sie eigentlich moralisch nicht vertretbar sind. Chandors konzentrierte Inszenierung, die treffsicheren Dialoge und die Darsteller sorgen dafür, dass die Protagonisten dieses Films menschliches Profil bekommen und man sich mit ihnen identifiziert – und zwar ohne wie Oliver Stones „Wall Street“-Fortsetzung
(fd 40 122) ins emotionale Familienmelodram auszuweichen. Chandors Systemkritik überzeugt deswegen, weil sie die einzelnen Charaktere nicht aus ihrer Verantwortung entlässt. Gerade weil sie als Individuen ernst genommen werden, bleibt stets präsent, dass sie auch individuelle Handlungsspielräume haben, die sie nutzen können – zum Guten wie zum Schlechten.