Bruder Schwester

Dokumentarfilm | Deutschland 2010 | 93 Minuten

Regie: Maria Mohr

Essayistischer Dokumentarfilm auf den Spuren einer deutschen Nonne, die sich der Erschließung des Lebens und Denkens des spanischen Trappistenmönchs Bruder Rafael (1911-1938) verschrieben hat, der 2009 heilig gesprochen wurde. Eine autobiografisch gefärbte, impressionistisch-poetische Erkundung über existenzielle Grundfragen, die nach strukturellen Analogien zwischen religiöser Praxis und zeitgenössischen Verhaltensweisen sucht und darüber auf das grundlegende Bedürfnis stößt, "Lebensabdrücke" im Fluss der Zeit aufzubewahren. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Hanfgarn & Ufer Filmprod./Maria Mohr Film/ZDF/3sat
Regie
Maria Mohr
Buch
Maria Mohr
Kamera
Johanna Aust · Anne Misselwitz · Maria Mohr
Schnitt
Maria Mohr
Länge
93 Minuten
Kinostart
24.03.2011
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Diskussion
„Meine Familie, mein Material.“ Knapper lässt sich der autobiografische Fokus der Filmkünstlerin Maria Mohr nicht beschreiben, die zwischen Experimental- und Dokumentarfilmgefilden das als Basis für ihre Arbeiten nutzt, was sie am besten kennt: die eigene familiäre Erfahrung plus jene Super 8-Aufnahmen, die davon retrospektiv Auskunft geben. In ihrem Langfilmdebüt „Bruder Schwester“ sind es dann auch Aufnahmen ihres in Folge von Muskeldystrophie früh verstorbenen Bruders Matthias, die das Titelthema der Geschwisterrelation in den Raum stellen. Doch die aus dem Off angenehm unprätentiös reflektierende Autorin will zunächst woanders hin: zu ihrer Tante Ingrid, einer Ordensschwester, die sich ganz der Erschließung des Lebens und Denkens eines ebenfalls jung verstorbenen Mannes verschrieben hat, des spanischen Trappistenmönchs Bruder Rafael Arnáiz Barón (1911-1938). Der Film folgt der Nonne als gefragter Rafael-Expertin auf ihren Reisen quer durch Spanien bis zur Heiligsprechung Rafaels 2009 in Rom. Dabei begegnet man nicht nur einer Ordensfrau, die als Promoter und „Übersetzerin“ eines Toten Karriere macht und viel herum kommt, sondern lernt auch einen komischen Heiligen und die nicht weniger skurrilen Begleitumstände seiner Erhebung zur Ehre der Altäre kennen. Um bei Rafael zu bleiben, einem adeligen Dandy, der in Burgos von Jesuiten erzogen wurde, Architektur studierte, Gedichte schrieb und lichte Aquarelle malte: Er kehrte 23-jährig der Welt den Rücken und wurde Novize; ein junger Mann zwischen christlicher Demut und ungestilltem Lebenshunger. Infolge des harten asketischen Lebens erkrankte er bald an Diabetes und wurde zurückgeschickt; zwei Jahre später klopfte er erneut an die Pforte der Trappisten, wurde wieder aufgenommen, kämpfte im Bürgerkrieg einige Monate für die Falangisten, erkrankte neuerlich und zog sich 1938 zum Sterben in die Abtei in Palencia zurück. Im Film sieht man Fotografien eines mondän gekleideten Bonvivants, hört aus dem Munde Ingrids Details aus seinem Leben und Notizen aus seinen literarischen Tagebüchern, ohne dass man dies alles auf einen Nenner bringen könnte. Zumal es auch immer kurioser wird, je mehr sich der Film den Umständen der Selig- und Heiligsprechung widmet. Die Nonne trägt in der Tasche einen Knochensplitter als Reliquie, die von Gläubigen geküsst wird; den exhumierten Gebeinen Rafaels wird Heilkraft zugeschrieben; eine besondere Gebetsform als Anrufung des Toten soll medizinische Wunder nach sich gezogen haben. Der Film tut dies alles nicht als grotesken Mumpitz ab, sondern nimmt es als familiäres Material, nämlich als Lebensinhalt von Ingrid, den es zu verstehen gilt, zwar nicht im streng religiösen, aber doch in einem inhaltlichen Sinne. Mohrs Bemühungen zielen dabei nicht auf Naheliegendes, etwa die PR-Strategie der Kurie, attraktive Heilige als neue Botschafter des Glaubens zu kreieren, wozu – schönes Detailbeobachtung – auch zum Mittel der Retouche gegriffen wird, wenn Rafaels gelöstes, weil verliebtes Konterfei aus einem Foto mit seiner Tante ins offizielle Heiligenbildchen einmontiert wird. Auch die emanzipatorische Linie in Schwester Ingrids Vita, die aus den beengten bundesdeutschen Verhältnissen durch ihren Eintritt in den Orden der Schwestern vom armen Kinde Jesu beträchtliche Freiheit gewann, wird eher nebenbei thematisiert. Im Kern geht es dem eher flanierenden, bisweilen poetisch-impressionistischen Film um strukturelle Analogien, auf verspielte Weise etwa durch die zahlreichen Geschwisterparallelen; Mohrs eigener Vater, Ingrids Bruder, tat es seiner Schwester gleich und griff – allerdings nur für eine Weile – zum Kollar; deutlich stärker akzentuiert ist das Bemühen, die christlich-mönchische Lebensform als eine wenn auch nicht majoritäre Antwort auf grundlegende Sinnfragen nachvollziehbar zu machen. Am intensivsten aber sucht der Film nach einem Brückenschlag, wenn es um Mohrs eigene Arbeit und die Erinnerung an ihren toten Bruder geht. Dabei kommt der Film einem Bedürfnis auf die Spur, das Mohr „Lebensabdrücke“ nennt: Töne, Bilder und Worte, die etwas halten und aufbewahren sollen, was eigentlich nicht zu halten ist – das Dasein im Fluss der Zeit. Ihr Film über „anwesende Abwesende“ entpuppt sich auf diese Weise als flirrend-gelassener Versuch, dem Andenken in seinen unterschiedlichen Gestalten – individuell wie kollektiv – eine zeitgemäße Form zu geben.
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