Ein junger Mexikaner, Mitglied der Mara Salvatrucha, einer gewalttätigen Gang, die in den 1980er-Jahren in Los Angeles von salvadorianischen Immigranten gegründet wurde, begegnet einem Mädchen, das mit seinem Vater aus Honduras illegal in die USA emigrieren will. Gemeinsam wollen sie in ein neues Leben fliehen, werden aber von einem jungen Handlanger der Gang verfolgt. Überzeugend verbindet das Drama Genre-Elemente aus Road Movie und Liebesfilm und verdichtet sie zur eindringlichen Bestandsaufnahme der tatsächlichen Verhältnisse, die Menschen Richtung USA treiben, sowie der Gefahren, die sie auf der Flucht erwarten. Die Hoffnungen und Sehnsüchte der Menschen werden in eine ebenso spannende wie tragische Geschichte verpackt, die vor allem auch Jugendliche anzusprechen versteht.
- Sehenswert ab 16.
Sin Nombre
Drama | Mexiko/USA 2009 | 96 Minuten
Regie: Cary Joji Fukunaga
Kommentieren
Filmdaten
- Originaltitel
- SIN NOMBRE
- Produktionsland
- Mexiko/USA
- Produktionsjahr
- 2009
- Produktionsfirma
- Canana Films/Creando Films/Focus Features/Primary Prod.
- Regie
- Cary Joji Fukunaga
- Buch
- Cary Joji Fukunaga
- Kamera
- Adriano Goldman
- Musik
- Marcelo Zarvos
- Schnitt
- Luis Carballar · Craig McKay
- Darsteller
- Paulina Gaitan (Sayra) · Edgar Flores (El Casper / Willy) · Kristyan Ferrer (El Smiley) · Tenoch Huerta Mejía (Lil' Mago) · Luis Fernando Peña (El Sol)
- Länge
- 96 Minuten
- Kinostart
- 29.04.2010
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Die Extras umfassen u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs und der Produzentin Amy Kaufman, ein Feature mit 13 im Film nicht verwendeten Szenen (10 Min.) sowie den Kurzfilm "Victoria para Chino" (14 Min.).
Diskussion
Namenlos – so die Bedeutung des Titels „Sin Nombre“ – bleiben so viele derjenigen, die es ohne Papiere in den Norden zieht, ins gelobte Land, in die USA. Namenlos bleiben meistens auch die, die fern ihrer Heimat unter die Räder der Güterzüge kommen, auf deren Dächern sie reisen. Cary Joji Fukunaga verfolgt in seinem Langfilmdebüt das Gegenteil: Er gibt den Schicksalen ein Gesicht. Sayra aus Honduras und El Casper aus Mexiko treffen sich auf dem Dach eines Zugs. Allerdings ist El Casper zu diesem Zeitpunkt bereits vogelfrei; sein Name, den er in der Gang führte, gilt nichts mehr, und Willy, sein bürgerlicher Name, wurde schon mit der Hoffnung auf ein Leben jenseits der Mara Salvatrucha begraben.
„Sin Nombre“ beginnt als Geschichte von Romeo und Julia, in Tapachula, Mexiko. Willy liebt die schöne Martha Marlene; ihm ist bewusst, dass diese Liebe und die Aufmerksamkeit, die er ihr widmet, gegen die Regeln der Gang verstoßen. Zur gleichen Zeit wirbt er den zwölfjährigen Smiley an, der gegen den erklärten Willen seiner Großmutter Teil der Gang-„Familie“ wird, indem er ein brutales Aufnahmeritual über sich ergehen lassen muss: 13 Sekunden lang gnadenlose Prügel und Tritte einstecken – und einen Menschen töten.
Die Mara Salvatrucha wurde in den 1980er-Jahren in Los Angeles von salvadorianischen Immigranten gegründet. Abgeschoben in ihre Heimatländer, brachten die jungen Männer ihr Gang-Erbe mit. Rasenden Zulauf erhielt die extrem gewalttätige Mara zunächst vor allem in Zentralamerika, später auch in Mexiko und einzelnen Ländern Südamerikas. Kleidung und Sprachgebrauch der Mareros orientieren sich nach wie vor an den US-amerikanischen Vorbildern. Ein Ausstieg aus der Gang ist praktisch unmöglich. Fukunaga zeigt das Gang-Milieu ungeschminkt und genretypisch brutal. In den Bildern von Smiley, das sich nach dem Prügelritual ein Lächeln abringt, und von dem bis ins Gesicht tätowierten Anführer, Lil’ Mago, der stolz sein Baby herumträgt, artikuliert sich jedoch auch, warum sich immer mehr Kinder und Jugendliche der Mara anschließen: In bitterster Armut erscheint die Gang als Ausweg, der, wenn nicht Ruhm, Ehre und Wohlstand, so doch Zugehörigkeit und einer gewissen Sinnhaftigkeit verspricht. Es gibt scheinbar nur einen zweiten Ausweg: die Flucht vor den Verhältnissen auf den Dächern der Züge. El Casper soll dort oben gemeinsam mit Lil’ Mago und Smiley die Menschen ausrauben, die unter Plastikplanen auf das Ende des Regens warten. Dabei rettet er Sayra das Leben, die sich kurz darauf revanchiert. Von nun an reisen und fliehen die beiden gemeinsam Richtung Grenze – der fatalistische, dem Tod geweihte junge Gangster und das naive, gutgläubige, unverdorbene Mädchen. Hier ist „Sin Nombre“ ein Road Movie mit außergewöhnlichem, sehr filmischem Setting: Die atemberaubenden Bilder der vorüberziehenden Landschaften stehen in Kontrast zum Elend auf dem Zugdach und links und rechts der Gleise, zur Verzweiflung der Menschen, die von nichts anderem träumen, als dieser Welt zu entrinnen – für ein Leben in den hispanischen Enklaven US-amerikanischer Großstädte, das wohl kaum zwangsläufig eine bessere Zukunft verheißt.
Der 1977 geborene Regisseur lebt in New York; er ist der Sohn einer Schwedin und eines Japaners. Als Fukunaga in Mexiko für „Sin Nombre“ recherchierte, so steht es im Presseheft, fuhr er selbst für einen Tag auf einem Zug mit. Sein brasilianischer Kameramann Adriano Goldman („City of Men“) schwelgt in großen, komponierten, stilisierten Bildern: Das Elend ist nie hässlich. Auf der „Berlinale“ 2008 lief der Dokumentarfilm „La Frontera Infinita“, der ebenfalls von der Flucht nordwärts auf dem Zugdach erzählt: Die Menschen verlieren Gliedmaßen, werden von der Polizei in ihre Dörfer und Ursprungsländer zurückgeschickt und versuchen es dennoch immer wieder. Ihre Hoffnung, ihre Sehnsucht nach einem besseren Leben auf der anderen Seite der Grenze ist nicht zu erschüttern. „La Frontera Infinita“ folgt dieser Bewegung, er beginnt an der Grenze, wird mit den Menschen zurückgeworfen und fängt wieder von vorne an. „Sin Nombre“ wirkt wie der fiktionale Kommentar dazu: Die Hoffnungen und Sehnsüchte der Menschen werden in eine tragische Geschichte verpackt. El Casper kennt denjenigen gut, der als sein Mörder ausersehen ist. Es ist Smiley.
Kommentar verfassen