Ein Mann Anfang 40, erfolgreicher Geschäftsmann und Vater zweier Kinder, zerstört innerhalb von zwei Tagen bewusst und offenbar lustvoll sein bisheriges Leben. Er beleidigt seine Kunden und Freunde, stößt seine Ehefrau und die Kinder vor den Kopf und fährt zu seinem Vater nach Irland, dem er als einzigem die Hintergründe seines Tuns erläutert. Brillant gespielte und inszenierte, wenngleich stark konstruierte Tragikomödie mit philosophisch-religiösen Untertönen. In schnellen Schnitten und Kamerabewegungen sowie der zügig voranschreitenden Handlung sinniert sie aufrüttelnd über die Flüchtigkeit des Glücks und vermittelt nachvollziehbar ihre "carpe diem"-Botschaft.
- Ab 14.
Tage oder Stunden
Tragikomödie | Frankreich 2008 | 84 Minuten
Regie: Jean Becker
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Filmdaten
- Originaltitel
- DEUX JOURS À TUER
- Produktionsland
- Frankreich
- Produktionsjahr
- 2008
- Produktionsfirma
- ICE3/Studio Canal/France 2 Cinéma
- Regie
- Jean Becker
- Buch
- Eric Assous · Jérôme Beaujour · Jean Becker
- Kamera
- Arthur Cloquet
- Musik
- Alain Goraguer · Patrick Goraguer
- Schnitt
- Jacques Witta
- Darsteller
- Albert Dupontel (Antoine) · Marie-Josée Croze (Cécile) · Pierre Vaneck (Vater von Antoine) · Alessandra Martines (Marion) · Cristiana Reali (Virginie)
- Länge
- 84 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Tragikomödie
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Von dem französischen Regisseur Jean Becker, der das Leben auf dem Land mit seinen eigensinnigen Bewohnern zuletzt in „Dialog mit meinem Gärtner“ (fd 38 503) so liebenswert beschrieben hat, erwartet man nicht gerade einen Film, in dem ein typischer Stadtmensch aus heiterem Himmel ausrastet und alle vor den Kopf stößt. Doch genau das tut Antoine, der erfolgreiche Mit-Inhaber einer Marketingfirma in Paris. Zuerst knallt er bei einer Präsentation dem Kunden an den Kopf, dass es am Produkt liege, warum ihm kein Werbespruch einfalle, und verkündet fünf Minuten später, dass er aus dem Geschäft komplett aussteige. Doch es ist auch keine spätpubertäre Attacke, wie sie Männer Anfang 40 gelegentlich überfällt, und auch nicht die typische Krise in der Lebensmitte, wie seine Freunde beim Geburtstagsessen spekulieren, als er einen nach dem anderen mehr oder mehr weniger subtil beleidigt. Zuvor schon hatte der bisher als Bilderbuchvater bekannte Geschäftsmann seine Kinder angepfiffen, die ihm zum Geburtstag Bilder gemalt hatten – was seiner Ehefrau Marion noch mehr nahe ging als die Tatsache, dass Antoine sich offenbar mit einer anderen Frau trifft und das auch unumwunden einräumt.
Angesichts der Verve und des Witzes, mit dem Albert Dupontel diesen trotz aller verbalen Raserei äußerlich so coolen Freak spielt, kommt man ins Grübeln. „Ich will frei sein“, sagt Antoine, „ich will leben, wirklich leben“. Mit solchen Dialogzeilen wird das Erfolgsmodell der französischen Gesellschaft in Frage gestellt, wie das in französischen Sozialdramen immer wieder geschieht. Doch spätestens, wenn Antoine sich im Wagen aufmacht, um seinen in Irland lebenden Vater zu besuchen und dabei einem Anhalter nebenei ein paar hundert Euro schenkt, wird klar, dass dieser Mann, der sich nun plötzlich von einer unerwartet menschlichen Seite zeigt, nichts mehr zu verlieren hat. Den französischen Zuschauern ist das schon vorher bewusst, der Filmtitel „Deux jours à tuer“ („Zwei Tage totschlagen“) deutet es an. Am zweiten Tag kommt Antoine in Irland an, wo er erstmals seit Jahren seinen Vater besucht. Hier ist Jean Becker wieder ganz bei sich. Antoine steht am Flussufer und schaut zufrieden auf die ruhige Landschaft, als befände er sich im Genrebild eines niederländischen Meisters. Die beiden Männer auf dem Land, die nur wenige Worte verlieren, aber sich schnell wieder verstehen, gehen zusammen Fliegenfischen, als gäbe es nichts Bedeutsameres und Sinnlicheres auf der Welt. Mehr zu verraten, hieße die Aura dieses kleinen und doch ganz großen Films zu zerstören. Die Rebellion erklärt sich ebenso wie das angebliche Eingeständnis Antoines, eine Geliebte zu haben, sowie der Konflikt, den er wohl schon länger mit sich herumschleppt. Man könnte „Tage oder Stunden“ sogar einen philosophisch-religiösen Film nennen.
Neben Albert Dupontel brilliert eine Fülle französischer Charakterdarsteller, die in Frankreich sehr beliebt, bei uns aber nicht bekannt sind. Das Überraschendste ist jedoch, dass Jean Becker, dessen karges Œuvre ohnehin erst spät mit „Ein mörderischer Sommer“ (fd 24 491) und „Ein Sommer auf dem Lande“ (fd 34 337) begann, im zarten Alter von 75 Jahren einen solchen Aufbruch wagt: keine lange Plansequenzen mehr, stattdessen kurze Schnitte, schnelle Kamerabewegungen, mitunter sogar hastige Dialoge im ersten Teil und ein für Jean Becker recht flottes Voranschreiten der Handlung in der zweiten Partie, in der Irland die französische Provinz ersetzt – was im zugrunde liegenden Roman schon vorgegeben ist. Die Idylle kommt noch vor, sie ist aber nur von kurzer Dauer. Gerade deshalb soll man sie so lange wie möglich genießen, bevor schmerzhafte Erfahrungen kommen, so Beckers simple Botschaft. Verpackt hat er diese in einen bewegenden, aufrüttelnden Film.
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