Anlässlich des Todes der Mutter, die im KZ ihren Glauben verloren hatte, kommt eine liberale französisch-jüdische Familie zusammen. Über der Frage, wie sie beerdigt werden soll, geraten Söhne, Enkel und deren Anhang, praktizierende und nicht praktizierende Juden, aneinander, wobei sie die Liebe zum Tango stets zusammenhält. Ein mit virtuoser Leichtigkeit inszeniertes Porträt jüdischer Befindlichkeiten, das eindrücklich die Nachwirkungen des Holocaust auf die späteren Generationen, Identitätskrisen, Entfremdung und Zusammengehörigkeiten auffächert. (Auch O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 14.
Der Tango der Rashevskis
Drama | Frankreich/Belgien/Luxemburg 2003 | 100 Minuten
Regie: Sam Garbarski
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Filmdaten
- Originaltitel
- LE TANGO DES RASHEVSKI
- Produktionsland
- Frankreich/Belgien/Luxemburg
- Produktionsjahr
- 2003
- Produktionsfirma
- Entre Chien et Loup/Archipel 35/Samsa Film
- Regie
- Sam Garbarski
- Buch
- Philippe Blasband
- Kamera
- Virginie Saint-Martin
- Musik
- Michael Galasso
- Schnitt
- Ludo Troch
- Darsteller
- Ludmila Mikaël (Isabelle Rashevski) · Hippolyte Girardot (Antoine) · Michel Jonasz (Simon Rashevski) · Daniel Mesguich (Daniel) · Nathan Cogan (Onkel Dolfo)
- Länge
- 100 Minuten
- Kinostart
- 20.01.2005
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Drama
- Externe Links
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Heimkino
Diskussion
Es ist keine allzu neue Erkenntnis, dass Menschen maßgeblich von ihrer Umgebung und deren Geschichte beeinflusst werden. Und so ist auch „Der Tango der Rashevskis“ ein Film, der nicht direkt vom Holocaust erzählen will und doch vor dessen Folgen für die kommenden Generationen nicht zurückweicht. Die Rashevskis sind eine liberale französisch-jüdische Familie. Die beiden Söhne sind noch nicht mal beschnitten, da die Eltern Shmouel und Rosa nach dem Krieg die Wiederkehr der Nazis fürchteten und ihrer Nachkommenschaft die Gräuel ersparen wollten, die sie selbst im Konzentrationslager erdulden mussten. Der Preis für die Anpassung war das Schweigen über die Vergangenheit und der Verlust der Identität. Irgendwann erlebte Shmouel eine religiöse Kehrtwende und verließ Frankreich, um in Israel ein orthodoxer Rabbi zu werden. Seine Familie, die in seinen Augen nur noch aus Ungläubigen und Gois bestand, hatte er seitdem nicht mehr gesehen.
Eine der berührendsten Szenen des Films spielt mit souveräner Leichtigkeit die Themen an, die die weitere Handlung vorantreiben; die Haltbarkeit der jüdischen Tradition, die Bindungen der Familie und nicht zuletzt die beiden Gegebenheiten des menschlichen Lebens, die niemals fehlen dürfen: Liebe und Tod. Als die 81-jährige Rosa stirbt, erleben ihre Kinder und Enkelkinder eine Überraschung: Nicht nur, dass sich Shmouel weigert, seiner Frau die letzte Ehre zu erweisen. In ihrem Testament verfügte Rosa, die ihren Glauben an Gott im Holocaust verloren hatte und allen Rabbis mit Verachtung begegnete, dass sie auf einem jüdischen Friedhof begraben werden möchte. Bereits die Fragen, nach welchem jüdischen Ritus die Beerdigungszeremonie stattfinden soll und ob mit oder ohne die Anwesenheit eines Rabbi, stürzt die jüdischen und nichtjüdischen, die praktizierenden und nicht praktizierenden Mitglieder der Sippe in turbulente Diskussionen. Das Einzige, was sie zusammen hält, ist die Liebe zum Tango, dem Lieblingstanz von Rosa, von dem sie fest überzeugt war, dass „alles gut wird, wenn man nur Tango zu tanzen weiß“. Immer wenn die religiösen Auseinandersetzungen überhand zu nehmen drohen, schwingen die Streithähne versöhnlich das Tanzbein zu den stimmungsvollen Klängen von Michael Galasso („In the Mood for Love“, fd 34 577).
Nacheinander durchleben die Rashevskis eine Identitätskrise. Die zwei Söhne verbringen die Nächte damit, am Telefon Schach zu spielen und sich gegenseitig ihre schwankenden Seelenzustände zu beichten. Großonkel Dolfo, noch im hohen Alter ein sympathischer Charmeur, nimmt Abschied vom eigenen Leben, träumt von der jungen Rosa, seiner heimlichen Liebe, und verspricht ihr, bald nachzukommen. Nicht ohne Grund sind es die Enkel, die sich für die radikalsten Lösungen entscheiden, um ihr aus den Fugen geratenes Leben wieder in Griff zu bekommen. Ausgerechnet Nina, die wegen ihrer katholischen Mutter als Jüdin nicht anerkannt wird, beschließt, eine traditionelle Familie zu gründen und wehrt sich deshalb gegen die Avancen von Antoine, einem nicht-jüdischen Freund der Familie. Der schafft das Problem aus dem Weg, indem er prompt zum Judentum konvertiert und als einziger unter den Rashevskis die religiösen Schriften studiert. Die Heiratspläne von Rica gestalten sich schwieriger, denn seine Freundin ist eine Muslima. Vielleicht gerade deshalb, weil Rica in der israelischen Armee diente und bei Einsätzen in den besetzten Gebieten dabei war, ist für ihn die jüdisch-muslimische Hochzeit eine Art Abrechnung mit der auch in seiner Familie herrschenden Ausgrenzung aller, die keine jüdische Herkunft vorweisen können.
Regisseur und Autor Sam Garbarski erzählt eine einfache, tragikomische Familiengeschichte, die voller Liebe steckt und zugleich ganz im französischen Kino verankert ist. In seinem ersten langen Spielfilm entwirft er – ohne selbst Partei zu ergreifen – ein vielschichtiges Tableau jüdischer Befindlichkeiten. Der gelernte Werbefilmer erzählt so sicher, so spürbar nah an seinen Figuren und so leidenschaftlich in seiner Teilnahme an der familiären Krise, als wäre er selbst ein Teil von ihr. Niemals trumpft er auf, seine Bescheidenheit ist seine Stärke. Obwohl der Film viele Tonarten zugleich anschlägt, die beherzte Komödie ebenso wie das facettenreiche Familienporträt, eine fast dokumentarische Milieuschilderung und dazu mehrere zärtliche Liebesgeschichten, kann man sich der wunderbar lakonischen Melancholie der Rashevskis nicht entziehen. Garbarski hält mühelos die Balance zwischen klug unterhaltendem Kino und der Aufforderung zur Selbstbesinnung und Toleranz.
All der Themenvielfalt zum Trotz folgt er seinem einmal angeschlagenen Thema konzentriert durch alle Ebenen der Geschichte und blickt so lange ins Innere der Emotionen, bis er auf deren Grund sehen kann, wo die Reste der religiösen Eigenarten und kulturellen Wurzeln liegen, der Kern der Identität, der sich nicht einschmelzen lässt. So wird der Film zur Bewältigungsparabel – und der Zuschauer fühlt sich als Zaungast einer ungemein lehrreichen Familientherapie.
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