Es scheint symptomatisch für dieses Kinojahr, dass Hollywoods künstlerisch ambitionierteste Großproduktionen kommerziell ein wenig hinter den Erwartungen zurückbleiben. So verhält es sich mit Spielbergs Kubrick-Hommage „A.I. – Künstliche Intelligenz“
(fd 35 041) und so ist es auch mit Walt Disneys „Atlantis – Das Geheimnis der verlorenen Stadt“, der in der USA weniger als der weitaus gefälligere „Shrek – Der tollkühne Held“
(fd 34 929) einspielte. Dabei bietet auch „Atlantis“ spannend-humorvolle Unterhaltung für die ganze Familie, angereichert allerdings mit einer gehörigen Portion philosophischem Tiefgang. Seit „Fantasia“ (fd 2178) hat es kein derart kühnes Zeichentrickabenteuer mehr gegeben, in dem formvollendete Farbkompositionen und inhaltliche Tiefenschärfe eine solche Allianz eingehen. Das aus Produzent Don Hahn und den beiden Regisseuren Gary Trousdale und Kirk Wise bestehende Erfolgstrio, das schon „Die Schöne und das Biest“
(fd 29 927) und „Der Glöckner von Notre Dame“
(fd 32 256) auf die Leinwand zauberte, erweist sozusagen en passant seinen Lieblingsfilm-Genres seine Referenz: Die Liste reicht von der schwarzen Komödie und dem Dschungel-Melodram aus den Anfängen des Tonfilms über Caper-Movies und Söldner-Filme der 60er-Jahre bis hin zum SF- und Fantasy-Thriller der heutigen Zeit.
„Mein Großvater hat immer gesagt: Was von uns bleibt, ist, was wir unseren Kindern als Geschenk hinterlassen“, erzählt der junge Wissenschaftler Milo Thatch, der als Kartograph und Linguist von seinen älteren Museumskollegen stets ein wenig belächelt wird. Seit seiner Kindheit träumt er davon, den sagenumwobenen Kontinent Atlantis zu entdecken. Der Glaube an die Existenz der versunkenen Stadt hat in seiner Familie eine lange Tradition. Als er sich schon damit abgefunden hat, im Museumskeller ein tristes Dasein zwischen Staubfäden und Spinnenbeinen zu fristen, erklärt sich unvermittelt der exzentrische Milliardär Preston B. Whitmore bereit, eine Expedition zu finanzieren. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist es soweit: Milo, der ein in geheimer Sprache abgefasstes Tagebuch mit neuen Hinweisen auf den Ort des untergegangenen Reiches entziffern kann, taucht mit dem sarkastischen U-Boot-Kommandanten Rourke und seiner bunt gemischten, mehrere Hundert Mann (und Frau!) umfassenden Crew in die Tiefen des Meeres. Bei der waghalsigen Mission wird durch Kämpfe mit Meeresungeheuern ein Großteil der Besatzung dezimiert, bis die übrig gebliebenen Forscher das entdecken, was niemand zuvor wirklich glaubte: Atlantis existiert nicht nur, seine Bewohner haben unter Nutzung einer scheinbar nicht von dieser Welt stammenden kristallenen Energie die Flutkatastrophe überlebt! Reste der hoch entwickelten Kultur sind erhalten, doch Atlantis droht Gefahr: die geheimnisvolle Kraft scheint schwächer zu werden, der endgültige Untergang der mystischen Stadt nur eine Frage der Zeit zu sein. Während der blinde, uralte König die Expeditionsmitglieder argwöhnisch begrüßt, findet die resolute Prinzessin Kida Gefallen an dem schüchternen Tagträumer Milo. Nur die beiden sind in der Lage, den Schlüssel zur lebenswichtigen Energiequelle zu finden, doch Rourke hat andere Pläne: „Wir sind keine Söldner, sondern an Renditen orientierte Abenteurer“, verrät er mit britischen Understatement, um gemeinsam mit seiner Stellvertreterin Helga Sinclair Atlantis Schätze zu plündern und Kida zu entführen. Milo, der mit einer flammenden Rede seiner Teamgefährten mobilisiert, macht sich zu einer atemberaubenden Verfolgungsjagd auf.
„Atlantis“ kommt wie ein Live-Action-Spektakel daher, das eher zufällig in die Animationsgefilde geraten ist. Der erste Disney-Zeichentrickstreifen im CinemaScope-Format seit „Susi und Strolch“ (fd 4940) und „Dornröschen und der Prinz“ (fd 1801) erinnert an eine Mischung aus Realfilmen wie „20.000 Meilen unter dem Meer“ (fd 1779) und „Jäger des verlorenen Schatzes“
(fd 23 185). Das innovative graphische Konzept vereint überzeugend handgemalte 2-D- (alle Figuren) und digitale 3-D-Effekte (z.B. das überdimensionale Maschinen-Seemonster Leviathan und alle Unterwasserfahrzeuge) zu einer bisher unbekannten plastischen Visualität. Für den Look wurde der für seinen expressiven Stil bekannte Comic-Buchautor Mike Mignola engagiert. Auch in anderer Hinsicht betritt „Atlantis“ Neuland: Niemals hat es so viele unterschiedliche Charaktere im Zeichentrick-Genre gegeben. Mit dem muskulösen, aber sanftmütigen Bordarzt Dr. Sweet hält die erste afro-amerikanische Hauptfigur Einzug ins Disneyland. Ausdrücklich zu loben ist hierbei die wortwitzige deutsche Synchronisation, in der u.a. Maria Schrader, Erik Schumann und Udo Wachtveitl den Protagonisten ihre Stimmen leihen. Für die Bewohner der Inselstadt kreierte der Linguist Marc Okrand eine mehrere Hundert Worte umfassende Sprache, die auf dem nicht mehr gebräuchlichen Indo-Europäisch basiert. Atlantis selbst, das nach Platos Angaben zwischen Sizilien und Libyen gelegen haben soll und im Film in der Gegend von Island angesiedelt ist, verrät in seiner Bauform südostasiatische und indische Einflüsse: Mit unzähligen efeuumrankten Steinruinen mutet es wie eine gefallenene Paradieslandschaft an.
„Atlantis – Das Geheimnis der verlorenen Stadt“ ist nicht nur stilistisch superb gemacht, sondern stellt als einer der wenigen Zeichentrickfilme grundlegende Fragen: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Gibt es und was ist überhaupt Unsterblichkeit? Das erste Erwachen des menschlichen Geistes wird in einer kunstvollen Rückblende thematisiert – eine Parallele zu Kubricks evolutionsbegierigen Affenhorde in „2001 – Odyssee im Weltraum“
(fd 15 732) drängt sich förmlich auf. Zum 100. Geburtstag ihres Erfinders hat Walt Disney Pictures sich und den kleinen wie großen Zuschauern ein wunderbares Geschenk gemacht.