Science-Fiction wird von ihren Anhängern oft als die Antwort des Pop-Zeitalters auf die Metaphysik betrachtet. Auf diese Definition konnten sich womöglich auch Steven Spielberg und Stanley Kubrick verständigen. Ob der Regisseur von „2001 – Odyssee im Weltraum“
(fd 15 732) und „Uhrwerk Orange“
(fd 17 806) allerdings mit Spielberg übereingestimmt hätte, als dieser sagte, Science-Fiction sei reine Imagination und handle vornehmlich von Träumen, das ist schon weit weniger sicher. Kubrick hat auf ähnliche Fragen eher geantwortet, dass seine Science-Fiction die Schaffung einer visuellen Erfahrungswelt sei, die mit ihren emotionalen und philosophischen Inhalten direkt ins menschliche Unterbewusste vordringe. Kubrick und Spielberg haben sich der Welt der Science-Fiction gleichsam aus verschiedenen Richtungen genähert. Das gilt nicht nur für den gedanklichen Ansatz, sondern ebenso für die stilistische Form. Man muss gar nicht auf Spielbergs populärsten Film dieses Genres, „E.T. – der Außerirdische“
(fd 23 743), zurückgreifen, um die Verschiedenheit des filmischen Konzepts und der künstlerischen Umsetzung zu begreifen, sondern es reicht schon, Spielbergs weitaus tiefgründigeren Film „Unheimliche Begegnung der dritten Art“
(fd 20 719) mit Kubricks „2001“ zu vergleichen. Es darf deshalb unterstellt werden, dass Kubrick nie der Annahme gewesen sein konnte, Spielberg werde eine Art Kubrick-Film aus zweiter Hand abliefern, als er mit ihm das Projekt „A.I.“ diskutierte, für das er selbst zwei Jahrzehnte lang keine ihn hundertprozentig überzeugende Lösung zu finden vermochte. Spielberg war durch den ständigen Gedankenaustausch jedoch so intim mit Kubricks Ideen vertraut, dass andererseits eine starke Anlehnung an dessen Vorstellungen nicht ausbleiben konnte. Das gilt umso mehr, als Spielberg „A.I.“ stets als ein Vermächtnis des plötzlich verstorbenen Regisseurs betrachtet hat und – bewusst oder unbewusst – eine Art Hommage auf Kubrick zu inszenieren begann.
Wer sich dem fertigen Film nähert, den Spielberg – gemessen an Kubricks jahrzehntelanger Gedankenarbeit – in einer Rekordzeit von nicht einmal 20 Monaten geschrieben und inszeniert hat, sollte sich deshalb von vornherein darauf einstellen, mit einem Zwittergebilde konfrontiert zu werden. Viele Szenen sind so, als habe Spielberg wie ein gelehriger, aber nicht sklavischer Schüler versucht, ein Kubriksches Universum zu schaffen; andere sind genuiner Spielberg – weit entfernt von Kubricks Gedankenwelt. Nachteil ist, dass dabei alles andere als ein homogener Film herausgekommen ist, Vorteil aber gleichzeitig, dass „A.I.“ geradezu eine Fundgrube für das Studium der stilistischen und philosophischen Verschiedenheiten zweier der bedeutendsten Filmemacher unserer Zeit geworden ist, Kubrick hat sich sehr dafür ausgesprochen, Filme mehrmals anzusehen: „Die Vorstellung, dass man einen Film nur einmal sehen solle, ist Ausfluss unseres traditionellen Konzepts vom Film als kurzlebige Unterhaltung statt als visuelles Kunstwerk. Wir glauben doch auch nicht, dass man ein großes Musikstück nur einmal hören, ein großes Gemälde nur einmal sehen oder auch ein großes Buch nur einmal lesen sollte.“ „A.I.“ ist ein Film, für den die Empfehlung mehrmaligen Sehens besonders gilt, weil sich gerade der filmkundige Zuschauer erst einmal frei machen muss von seinen spontanen Neigungen und Abneigungen angesichts eines komplexen Werks, das durch die Verwobenheit zweier Denkweisen und durch die häufige Inkompatibilität zweier Stilrichtungen zunächst leicht Ratlosigkeit oder Widerspruch auslösen kann.
„A.I.“ ist weniger eine Endzeit-Vision als ein Exkurs in die Tiefen der menschlichen Psyche. Zwar umreißt die Handlung eine Zeitspanne von mehreren tausend Jahren, doch die bohrende Frage bleibt stets dieselbe: Wenn im Zentrum des Menschseins Geist und Emotion stehen, warum haben wir dann so viele Probleme damit, beide in Übereinstimmung zu bringen? Es ist ein mechanisches Lebewesen, ein kleiner Junge namens David, der als Kristallisationsfigur dient. Dazu geschaffen, in einer von Naturkatastrophen heimgesuchten Welt vereinsamten Ehepaaren, die keine Kinder haben dürfen, als Ersatzkind zu dienen, ist David darauf programmiert, seiner „Mutter“ bedingungslose Liebe entgegenzubringen. Doch weder die Familie noch die Gesellschaft, zu deren Komfort und Besänftigung er geschaffen wurde, erwidern seine Gefühle. Die mechanischen Helfershelfer, die menschlicher Erfindergeist in verblüffender Vielfalt und Anzahl hervorgebracht hat, werden vielmehr zu Widersachern und zur unwillentlichen Bedrohung des menschlichen Selbstbewusstseins. Aus der Familie, die „adoptierte“, wieder ausgestoßen, schließt sich David einem künstlichen Gigolo an, einem Roboter der Liebe, mit dessen Hilfe er die Vernichtungsorgien einer Flesh Fair überlebt, auf der sich die Menschen der selbstgeschaffenen mechanischen Abbilder auf brutale Weise entledigen. Doch zur Liebe programmiert, kennt David auch trotz aller negativen Erfahrungen kein anderes Ziel, als die Gegenliebe seiner „Mutter“ zu gewinnen. Wie der hölzerne Bengel in „Pinocchio“ sieht er seine einzige Chance darin, ein richtiger Junge zu werden. So macht er sich denn auf, die alle Wünsche erfüllende gute Fee des Märchens zu finden.
„A.I.“ macht es einem nicht leicht. Die Story entwickelt sich nicht mit der gleichen erzählerischen und formalen Kongruenz, die man von Spielbergs früheren Filmen gewöhnt ist, sondern der Fluss der Handlung wird zweimal ziemlich abrupt in eine andere Richtung gelenkt. Vielleicht kommt man am besten mit dem Film zurecht, wenn man ihn als eine Art Triptychon ansieht, das komplementäre, aber andersartige Darstellungen ein und desselben Themas anbietet. Der mit distanzierenden Verfremdungseffekten arbeitende Anfang stellt der bedingungslosen Liebe des mechanischen Kindes die Gefühlskälte einer menschlichen Familie gegenüber, die auch in ihrer persönlichen Interaktion wie nach einem vorprogrammierten Ritual funktioniert. Wer ist der Roboter, wer der Mensch? Der Mittelteil öffnet die Perspektive und demonstriert die Bedrohung, der sich die Menschheit angesichts einer überwältigenden Vielfalt artifizieller Lebewesen ausgesetzt sieht. In zunehmender Perfektion spiegeln diese „Mechas“ menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen, die den Menschen selbst immer mehr abhanden kommen. Zum Schluss überspringt der Film Tausende von Jahren und entdeckt das mechanische Kind David in der Eisschicht einer vergangenen Zivilisation wieder – immer noch auf der Suche nach einem Äquivalent für seine absolute Liebesfähigkeit. Zum ersten Mal findet David Verständnis (und Erlösung) – ausgerechnet bei jenen fremdartigen Lebewesen, die in einer Art telepathischer Kommunikation die Begrenzungen von Zeit und Raum weit hinter sich gelassen haben. Obwohl Spielbergs unterschwellige Melodramatik und sein Hang zu unverstelltem Kitsch Kubricks existenzieller Story immer wieder in den Rücken fallen, reflektiert der Film eine Menge ernsthafter Fragen, denen man im Hollywood-Kino nicht gerade häufig begegnet. Kubricks Themenkatalog, der auch hier wieder von den Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens bis in metaphysische Dimensionen vorstößt, hält offensichtlich sogar der Bedrohung durch einen Regisseur stand, dessen Glaube an den Sieg des Guten durch nichts zu erschüttern ist.
Wer mit der Erinnerung an „E.T.“ in diesen Film gerät, wird düpiert und verwirrt reagieren, denn er muss zunächst einmal lange Szenenfolgen überstehen, in denen ihm vermutlich nichts vertraut vorkommt. Umso eher dürften Kubrick-Fans bekannte Ansätze finden, aber wohl kaum mit deren Realisation zufrieden sein, weil sich Spielberg zwar auf Kubricks distanzierteren und analytischeren Stil einzulassen versucht, jedoch weder auf seinen eigenen Hang zur Vereinfachung noch auf seine Bevorzugung emotional motivierter Resultate verzichtet. „Falls ich diesem Projekt ein paar Jahre meines Lebens widmen sollte“, hat Spielberg gesagt, „dann muss ich nach der Wahrheit suchen, nach dem, wofür Stanley gestanden hat, aber auch nach dem, wofür ich heute im Alter von 54 Jahren stehe. Ich habe, so gut ich konnte, versucht, etwas von dem alten Sicherheitsnetz hinter mir zu lassen.“ Das hat er in der Tat getan. In „A.I.“ wird eine Menschheit präsentiert, die ihre Menschlichkeit verloren hat; Tugenden wie Liebe, Güte und Treue sind den künstlichen Wesen vorbehalten. Wie schwer Spielberg dieser Entwurf gefallen ist, zeigt nicht zuletzt die Erfindung eines besänftigenden mechanischen Teddybären. Was in „E.T.“ noch mit den Vorzeichen simpler Neugier und Naivität, aber nur mit verhaltener Kritikbereitschaft daherkam, kulminiert diesmal in der schon fast surrealen Brutalität der Flesh Fair und der doppelbödigen Ironie Gigolo Joes und seines monströsen Betätigungsfeldes Rouge City. In diesem zentralen Kapitel von „A.I.“ mischen sich Anspielungen auf „Spartacus“
(fd 24 628), „Uhrwerk Orange“ und Schindlers Liste“
(fd 30 663), ohne allerdings zu einem organischen Ganzen zusammenzuwachsen. Angeblich hat Spielberg 600 der originalen Storybords verwendet, die Comic-Book-Illustrator Chris Baker für Kubrick angefertigt hatte; dennoch wirkt der Mittelteil irgendwie antiquiert, nicht auf der Höhe des heutigen Science-Fiction-Films nach „Blade Runner“
(fd 23 689) und „Matrix“
(fd 33 720). „Ich fühlte mich wie ein Archäologe, der die Steinchen einer Zivilisation aufliest. Aber schließlich musste ich respektlos sein, wenigsten insoweit, als ich in der Lage sein musste, nicht aus Stanleys Herzen, sondern aus meinem eigenen Herzen zu schreiben“ (Spielberg). Kubrick hatte zwar auch schon die Vorstellung, die Story mit der Geschichte von Pinocchio zu verbinden, aber er hätte, wie Sara Maitland, Kubricks zeitweilige Mitarbeiterin, es formulierte – dem armen kleinen Pinocchio-Märchen sicher keine zweieinhalbtausend Millennien aufgebürdet. Spielberg hingegen findet in der guten Fee, die als Einzige in der Lage ist, Davids Wünsche zu gewähren, eine Katalysationsfigur, die ihn zu seinen eigenen Anfängen zurückkehren lässt, ohne Kubricks Konzept zu verraten. Die Folge allerdings ist, dass aus David keine Kubricksches Sternenkind, sondern ein Spielbergsches Menschenkind wird, das seinen sehnlichen Wunsch endlich erfüllt bekommt: nach Hause zurückzukehren und eine liebende Mutter vorzufinden – sei es auch nur für einen einzigen Tag.