Wo hört Schutz auf und fängt Bedrohung an? Als in einer Stadt im fiktiven osteuropäischen Land Sokovia eine Armada von Tony Starks Kampfrobotern landet, sind die Bewohner verängstigt. Dabei wollen die Roboter doch nur helfen. Bei einer in der Nähe gelegenen Bergfestung tobt ein Kampf zwischen den Avengers und den Truppen von HYDRA; die Maschinenmänner sollen Schaden von der Zivilbevölkerung abhalten. Die aber will offensichtlich nicht beschützt werden und setzt sich mit Steinwürfen zur Wehr.
Was für den einen notwendige Sicherheitsmaßnahme ist, ist dem anderen ein Eingriff in seine Freiheitsrechte. Um diese Thematik geht es im MCU, im Marvel Cinematic Universe, immer wieder; unschwer zu erkennen als Reaktion auf die realen Dilemmata der US-Sicherheitspolitik nach 9/11 und im Zuge des „war on terror“. Auch im neuen „Avengers“-Film spielt dies wieder eine Rolle, von der eingangs beschriebenen ironischen Szene bis zum großen Handlungsbogen um die künstliche Intelligenz Ultron.
Schon in den ersten Filmminuten fliegt einem in einer rasanten Actionsequenz das Szenario um die Ohren, das am Ende von „The Return of the First Avenger“
(fd 42 273) zurückgeblieben war. Die Sicherheitsbehörde S.H.I.E.L.D. ist aufgelöst, und es obliegt den Avengers, unter den Vasallen von HYDRA aufzuräumen, die S.H.I.E.L.D. unterwandert hatten. Der Kampf ist heftig. Hawkeye wird verletzt; Tony Stark hat eine unheimliche Begegnung mit der „Scarlet Witch“ Wanda, dem weiblichen Teil eines übernatürlich begabten Zwillingspärchens in HYDRAS Diensten. Schließlich gelingt es, HYDRA-Anführer Baron Strucker und ein entwendetes Artefakt – Lokis Waffe aus dem ersten „Avengers“-Film – dingfest zu machen. Doch die Ruhe danach ist fragil. Das weiß Tony Stark, und deshalb aktiviert er Ultron. Statt eines Schutzes entfesselt er jedoch einen wütenden Rachegott, der dem Superheldenteam schnell über den Kopf wächst.
Wie im ersten „Avengers“-Film versucht Regisseur Joss Whedon, die Dynamik innerhalb der Heldentruppe zum emotionalen Anker des Spektakels zu machen. Wenn die Avengers und alte Freunde wie Maria Hill, „Rhodey“ Rodes und „Falcon“ Sam Wilson Party feiern, Natacha Dr. Banner anbaggert oder mit Thors Hammer herum gealbert wird, wenn Clint Barton unvermutete häusliche Seiten offenbart und Tony und Steve sich beim Holzhacken über Lebenspläne austauschen, wünscht man sich mitunter, es stehe nicht gleich wieder ein Superschurke parat, der mit viel Getöse besiegt werden muss, sondern die „menschelnden“ Momente dauerten etwas länger. Aber natürlich ist das Getöse unvermeidbar. Und es ist furios, auch wenn die Actionszenen diesmal etwas wuselig-unübersichtlich ausfallen und nicht die fließende, raumgreifende Eleganz erreichen, mit der Whedon die Kämpfe gegen die Chitauri in New Yorks Häuserschluchten im ersten „Avengers“-Film
(fd 41 052) umsetzte.
Mit der Scarlet Witch, die hellseherische Einblicke hat, die Gedanken ihrer Gegner manipulieren kann und sich mit ihrem Bruder Quicksilver Ultron anschließt, verfügt der Film nicht nur über eine interessante neue Frauenfigur. Indem sie die „Avengers“ mit ihren Ängsten konfrontiert, trägt sie dazu bei, die Helden verletzlicher und fehlbarer zu machen – vor allem Tony Stark, der schon in „Iron Man 3“
(fd 41 697) bei Panikattacken einiges von seiner Coolness einbüßte, wird von der Begegnung mit Scarlet Witch gezeichnet und trifft anschließend Entscheidungen, die einige seiner Avengers-Kollegen zu Recht höchst zweifelhaft finden: Liegt das Heil der Erde wirklich in der Aufrüstung, in der Entwicklung noch effektiverer Überwachungs- und Waffensysteme?
Der Film scheint trotz des Ultron-Debakels am Ende Tony Stark Recht zu geben, weil – Achtung Spoiler! – schließlich Feuer mit Feuer bekämpft wird und die Aktivierung einer zweiten gottgleichen künstlichen Intelligenz das Kräfteverhältnis der Avengers gegenüber Ultron wieder ausgleicht. Oder ist das nur eine Steilvorlage für weitere Konflikte um Sinn und Unsinn der Sicherheitspolitik? Schließlich steht im nächsten „Captain America“-Film der „Civil War“ an, bei dem die Avengers ihre unterschiedlichen Positionen in Sachen Freiheit vs. Kontrolle gegeneinander neu auskämpfen müssen.