Hätte man Wim Wenders, Werner Herzog oder Martin Scorsese zugetraut, dass sie jemals einen 3D-Film drehen würden? Es ist schon erstaunlich, dass die Stereoskopie inzwischen sogar das Interesse von Autorenfilmern weckt. Trotzdem sei die Prognose gewagt, dass Christian Petzold der 3D-Technik auch künftig die kalte Schulter zeigen wird. Sein Kino drängt sich dem Zuschauer nicht auf, es absorbiert nicht dessen Aufmerksamkeit, sondern lebt vielmehr von einer gewissen Distanz. Bild bleibt bei Petzold Bild, Tiefe ist bei ihm eine Frage des emotionalen Resonanzraums und anti-illusionistisch gedacht. Bei „Barbara“, seinem ersten in der historischen Vergangenheit situierten Film, ist es zweitrangig, ob einem das gezeigte DDR-Ambiente nun besonders authentisch erscheint oder nicht: Petzold lässt Club-Cola, Broiler oder „Aktuelle Kamera“-Clips beiseite und interessiert sich einmal mehr für die Menschen vor den Requisiten und den Orten.
Der Film nimmt weitgehend die Perspektive seiner Titelfigur ein. Die Schauplätze – angesiedelt in der Mecklenburgischen Provinz anno 1980 – spiegeln die Gefühle der Heldin. Gebäude, Baumreihen und Gebüsch blockieren die Sicht in die Ferne. Ein dunkler Torbogen, eingeschnitten in das Nachbargebäude vor ihrem Fenster, visualisiert Barbaras Tunnelblick: Die Durchgangsstation ist nicht von Belang, das Hier und Jetzt scheint wertlos. Barbara setzt alles auf die Zukunft. Sie war im Gefängnis, jetzt ist der ganze Staat ein Gefängnis für sie. Nach Berlin, wo sie als Ärztin zuletzt gearbeitet hat, darf sie nicht zurück, sie wird in ein Kreiskrankenhaus an der Ostsee strafversetzt. „Ich mag das Meer nicht“, sagt Barbara einmal, und entsprechend verweigert Petzold lange den Blick auf die See. Barbara hat Respekt vor dem Meer, vor der Flucht, die kurz bevorsteht und die Jörg organisiert hat, ihr Geliebter aus dem Westen. Bei ihren heimlichen Treffen, erst im Wald, dann im Interhotel, fallen die beiden umstandslos übereinander her.
Ähnlich unkompliziert malt Jörg Barbaras Zukunft im Westen. „Wenn wir verheiratet sind, musst Du nicht mehr arbeiten“, sagt er. Barbara schwant: Das Wasser, in das sie springen soll, ist kälter als vermutet. Doch für den Sprung gibt es gute Gründe. Barbara bekommt eine schäbige Einzimmerwohnung zugewiesen, doch selbst hier fühlt sie sich permanenter Observation ausgesetzt, und das gilt nicht allein für die mürrisch-neugierige Hausmeisterin. Regelmäßig kreuzt ein Stasi-Offizier auf, und wenn die ihn begleitende Beamtin ihre Gummihandschuhe überstreift, erfährt Barbara, dass die Observation nicht vor dem Intimbereich halt macht. Eine Gegenwelt eröffnet sich im Krankenhaus. Hier werden Untersuchungen durchgeführt, um zu heilen. In der Klinik beginnt Barbara, sich wieder als Mensch zu fühlen. Umgekehrt betrachtet sie auch ihre jungen Patienten mit einem anderen Blick. Während der Offizier und selbst Jörg primär als Chiffren für Barbaras Angst oder Hoffnung fungieren, werden die Patienten als wirkliche Charaktere gezeichnet. Insbesondere die an Hirnhautentzündung leidende, schwangere Stella spielt im dramaturgischen Geflecht des Films eine wichtige Rolle. In dem, was der jungen Stella widerfährt, zeigt sich die ganze Unmenschlichkeit des Systems.
Wie in all seinen Filmen erzählt Petzold auch in „Barbara“ eine Liebesgeschichte. Der Argwohn der Heldin gegenüber ihrem Chef André weicht Sympathie. Die energische und zugleich zerbrechlich wirkende Nina Hoss und der massige Ronald Zehrfeld bilden ein plausibles Paar. Wie schon in „Yella“
(fd 38 327) erwächst die Zuneigung aus einer Arbeitsbeziehung. Bewundernswert ist Petzolds Choreografie der Blicke, die besonders im Verhältnis zwischen Barbara und André entfaltet wird. Barbaras Paranoia nährt sich aus der Tatsache, dass sie sich ständig angestarrt fühlt. Die Gespräche im Auto ihres Chefs finden dagegen mit wenig Blickkontakt statt, dafür in ungewohnter Vertrautheit. Blicke sind ein Thema der klassischen Figurenmalerei. In einer Szene macht Petzold Rembrandts 1632 gemalte „Anatomie des Dr. Tulp“ zum Anlass eines Bild-Essays im Film (Drehbuchmitarbeit: Harun Farocki). Barbara stellt fest, dass die Hand des Toten anatomisch falsch gemalt sei. Daraufhin bemerkt André, dass die Hand eben wie im Anatomiebuch dargestellt sei, auf das die Blicke der um die Leiche versammelten Ärzte fixiert sind – und der Arzt erläutert, dass nur wir, die Betrachter, den Menschen auf dem Seziertisch anblicken.
Ein anderes Beispiel für Petzolds visuelle Fantasie sind die Farben. Die Klischee-DDR à la „Das Leben der Anderen“
(fd 37 524) ist meistens in braun-, grün- und blaustichigen Tönen gehalten. Petzold, im Westen aufgewachsen, ignoriert diese Konvention und setzt leuchtende Primärfarben ein. Blau und Rot erscheinen jeweils doppeldeutig. Wenn Barbara im Dunkeln mit ihrem Fahrrad fast ins Heck eines bremsenden Stasi-Autos fährt, dessen Rücklichter knallrot aufflammen, dann steht die Farbe für unmittelbare Gefahr. Auch das unnatürliche Rot der Straßenlaternen signalisiert Bedrohung, während dieselbe Lichtfarbe, wenn sie Stellas Krankenzimmer erfüllt, ein uterushaftes Gefühl von Geborgenheit vermittelt. Klare Blautöne symbolisieren Barbaras Sehnsucht nach einem erfüllten Leben, beginnend mit dem Bus, der die Heldin in die Eröffnungseinstellung hineinfährt, bis zu den blauen Kleidungsstücken, die Barbara oft trägt. In tödlich-blauer Kälte aber leuchtet das Meer, das erst am Ende zu sehen ist und einen gespenstischen Widerschein auf Barbaras Gesicht wirft.