Seit 1999 haben sich Heerscharen von Philosophen, Theologen, Psychoanalytikern und anderen Intellektuellen über die „Matrix“
(fd 33 720) hergemacht und sie als willkommene Plattform für ihre gehobenen Deutungsversuche genutzt. Plötzlich ließen sich wieder ganze Hörsäle mit unverständlichem Gebrabbel und verquasten Theorien füllen. Derweil sich die gelehrten Kreise am Hauch des Populären berauschten, beruhte die Begeisterung des einfachen Mannes wie des Kritikers darauf, endlich wieder einen „coolen“ Actionfilm mit noch nie dagewesenen Kampfszenen serviert zu bekommen. Wo liegt die Wahrheit? Ist die „Matrix“-Trilogie Studenten- oder Pöbelfutter? Oder am Ende gar beides? Und wird man der Antwort näher gekommen sein, nachdem „Matrix Reloaded“ appliziert wurde?
Was die Handlung betrifft, geht es 136 Minuten lang voran: Neo hat inzwischen an seinen Fähigkeiten Gefallen gefunden. Kraft seiner Durchdringung der Matrix stellt er sich jedem Kampf, und sei dieser noch so aussichtslos. Selbst in dutzendfacher Ausführung kann ihn sein alter Gegenspieler Agent Smith nicht mehr schrecken. Auszeiten vom harten Erlöserdasein gewähren ihm – wie einst Peter Pan – unbeschwerte Flugstunden. Doch kein Held ohne Zweifel: Neo wird von Träumen verfolgt, in denen seiner Geliebten Trinity der Tod widerfährt. Die bange Frage stellt sich: Sind das nur die Angstträume eines fürsorglich liebenden Supermannes oder doch die sich selbst erfüllenden Visionen eines Weltenretters? Während sich Neo und Trinity im altarmäßig beleuchteten Felsalkoven mystischem Sex hingeben, droht Zion, der unterirdischen Fluchtburg widerständischer Menschen, die Zerstörung. Von einer übermächtigen Maschinenarmee angegriffen, trennen die Rebellenkolonie lediglich ein paar Stunden vom Untergang. Nur Morpheus glaubt weiterhin unerschütterlich an das siegreiche Ende des Kampfes. Er vertraut auf Neo und die Prophezeihung des Orakels. Was aber wäre, wenn auch das Orakel auf der Seite des Feindes stünde? Oder sich Agent Smith plötzlich zu den Menschen hingezogen fühlte? Immer noch ist die Frage offen, was die Matrix im Innersten zusammenhält, und wer ihr oberster Designer ist. Um die Matrix zu knacken, braucht die aufständische Menschheit deshalb dringend den Schlüsselmacher. Aber der Hüter sämtlicher Türen wird von Merowinger, einem bösen, französisch fluchenden Programm gefangen gehalten. Welch ein Glück, dass Persephone, die Monica Bellucci gewordene Göttin der Unterwelt, bereit ist, für einen menschlichen Zungenkuss Geheimwissen zu verraten. Und Neo inzwischen auch diese Kräfte beherrscht.
Ist das der Stoff, aus dem Tiefsinn gemacht ist? Larry und Andy Wachowski stehen ganz offensichtlich mehr in der Tradition von Georg Lucas als in der Platons und Schopenhauers. Sie verbreiten allerhöchstens Aphorismen-Philosophie ohne jeden Sinn für Zusammenhänge und Plausibilität. Unbeschwert mixen sie alles, was tiefsinnig scheint. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn sie selbst nicht an das glauben würden, was sie erzählen. Es scheint, als ob die Verzückung der Philosophen bei ihnen selbst am meisten Schaden angerichtet hat. Mit „Matrix Reloaded“ enthüllen die Brüder treuherzig, was sie sich bei all dem gedacht haben und verheddern sich heillos in Plattitüden und Nonsense. „Glaubt, wie ich glaube!“, sagt Morpheus – und man mag gar nicht glauben, dass alles tatsächlich so inhaltsleer ist, wie man schon bei „Matrix“ befürchtet hatte. Um den bedeutungsschwangeren Nimbus wahren zu können, wird in „Matrix Reloaded“ eindeutig zu viel geredet. „Du bist nicht hier, um Dich zu entscheiden. Die Entscheidung hast Du bereits getroffen. Du bist hier, um zu begreifen, warum Du diese Wahl getroffen hast.“ Das ist einer von zahllosen Schlüsselsätzen, die sich selbst entlarven und jedes bereits geplante Symposium im Keime ersticken. Vollends erdrückt wird „Matrix Reloaded“ von der Hypothek an Pseudoreligiosität, die man sich im ersten Teil aufgehalst hat. Neo kämpft doch tatsächlich im Priesterlook, und die „Zionisten“ werden zum Gebet in den Tempel geladen, wo sie brav die Schuhe ausziehen. Zu wem gebetet wird, was all die Rituale sollen, und welche Religion der Hohepriester Neo verkörpert, das wissen nicht einmal die Götter. „Matrix Reloaded“ ist die Umkehrung des Märchens von des Kaisers neuen Kleidern: bombastische Hülle – kein Inhalt.
Das alles ficht den Kritiker jedoch noch lange nicht an, wenn wenigstens die Action stimmen würde. Aber der Film leidet – allerdings unverschuldet – am eigenen Erfolg. Seit 1999 hat jeder zweite Actionfilm den „Matrix“-Stil kopiert. Damit ist das, was damals an den Kinosessel fesselte, zum Standard geworden. „Matrix Reloaded“ wirkt visuell nicht mehr innovativ, sondern lediglich wie solides Mittelmaß. Nur während einer halsbrecherischen Autoverfolgungsjagd werden neue Register gezogen. Hier funktioniert für einige Minuten, was den ersten Teil zum Vergnügen werden ließ: Altbekannte Muster werden neu angeordnet und erzeugen dadurch auch neuen Reiz. Das Spiel mit Türen, von denen man nie wissen kann, ob sie hinaus oder hinein führen, ist ebenfalls reizvoll. Ansonsten wird reproduziert und dupliziert – „reloaded“ halt. Durch die überlangen Dialoge geht zudem auch noch der Sinn fürs Timing verloren. Solange man in Atem gehalten wird, kann die Story noch so hirnrissig und inkonsistent sein: Das Vergnügen wird nicht geschmälert. Aber wenn den Zuschauern zu viel Zeit bleibt, geraten selbst Popcorn-Cineasten ins Grübeln und bleiben schließlich außen vor. Am Überraschendsten nach der langen Produktionszeit aber ist, dass „Matrix Reloaded“ bereits jetzt verstaubt wirkt, obwohl Schmutz und Dreck in der Unterwelt sorgfältig herausgeputzt wurden. Schuld am Retro-Look ist nicht nur, dass offenkundig „Superman“
(fd 21 065) mit „Metropolis“
(fd 35 434) gekreuzt wurden. Wenn der Rat in Zion zusammensitzt, wird man so unvermittelt an „Raumschiff Enterprise“ erinnert, dass man sich mühelos vorstellen kann, wie man in ein paar Jahren über den biederen Look des Films schmunzeln wird. Wenn es in „Matrix Reloaded“ einen Gott gibt, dann ist es der Designer – und dem ist nicht erst beim genieteten Councillor-Amt die Schöpferkraft ausgegangen.
Wäre es bei „Matrix“ geblieben, könnte man auch in Zukunft lustvoll darüber spekulieren, was denn die Matrix sei, wozu Neo berufen wurde und wie das Ganze ausgeht. Vielleicht hätte dieser Film, wäre er ein Unikat geblieben, sogar das Zeug zum Klassiker gehabt. Aber mit „Matrix Reloaded“ reichen die Wachowski-Brothers selbst den Hammer zur Demontage. Ob in dieser Situation die philippinische Operationsmethode noch hilft, mit der Neo bei Trinity Hand anlegt? Man wird es in „Matrix Revolutions“ erfahren. Allein, bei Morpheus, der Glaube daran fällt immer schwerer.