Nichts ist, wie es scheint – dies muß der Computerprogrammierer Neo erkennen, als er sich auf eine Gruppe von Terroristen einläßt, die ihm eine Welt hinter der Fassade des Sichtbaren zeigt. In seiner bisherigen Welt war Neo nur deshalb vor der Polizei auf der Hut, weil er mit illegalen Cyberspace-CDs handelte. Doch mit Hilfe der Terroristen, den meistgesuchten Personen des Staates, die von dem düsteren Morpheus geleitet werden, entdeckt er eines Tages, daß der Lebensraum der Menschen ein einziges gigantisches Computerprogramm ist. In Wahrheit wird die Krone der Schöpfung in Myriaden von Glassärgen gezüchtet, die Körper übersät mit Schläuchen zur Lebenserhaltung und zur Manipulation der Gehirne – sowie zum Anzapfen ihrer natürlichen Elektronenströme. Intelligente Maschinen, die die postapokalyptische Erde beherrschen, versorgen sich auf diese Weise mit der notwendigen Energie. Neo wurde auserwählt, den Kampf gegen das manipulative System zu führen, weniger auf Grund seiner Fähigkeiten als auf Grund der Überzeugung Morpheus’, daß es sich bei Neo um den Erlöser der Menschheit handle.Zugegeben, dies ist die seit langem unwahrscheinlichste Geschichte, die zum Plot eines Science-Fiction-Films wurde. Dabei handelt es sich nicht einmal um ein B-Movie, sondern um eine Studio-Großproduktion, die derzeit in Amerika der Zuschauermagnet Nr. 1 ist. Gleichzeitig begegnet man darin der bislang radikalsten Ausformulierung eines Phänomens, das seit einiger Zeit durchs Hollywood-Kino geistert: einer Art kollektiver Verschwörungsparanoia, in der sich ein tiefes Mißtrauen gegenüber der Welt, wie wir sie kennen, artikuliert. Am griffigsten lassen sich solche Vorstellungen mittels Mediensatiren illustrieren, zu denen „Wag the Dog“
(fd 33 055) ebenso gehört wie „Die Truman Show“
(fd 33 417) oder „Pleasantville“
(fd 33 566). Doch schon ein Film wie Oliver Stones „John F. Kennedy – Tatort Dallas“
(fd 29 360) thematisierte weniger ein historisches Ereignis als vielmehr die Angst vor einem gigantischen Apparat, der hinter den Kulissen des Sicht- und Recherchierbaren die Geschicke der Nation (und der Welt) lenken könnte. (Wie ein fernes Echo aus der deutschen Provinz tauchte alsbald auch Hans Christian Schmids Thriller „23“, fd 33 482, auf.) Man muß nicht zu Plato zurückgehen, um der menschlichen Angst vor einer möglichen Diskrepanz zwischen Schein und Sein nachzuspüren. In jüngerer Zeit waren es besonders die Philosophen des Poststrukturalismus, die dem Vordergründigen, dem Schein an sich, den Wert einer eigenen Wirklichkeit zuschrieben. Mit einigen Jahrzehnten Verspätung artikulieren sich solche Überlegungen auch in Hollywood. Daß sie jetzt en vogue sind, hat mit Cyberspace und Internet, mit Photoshop und Computersimulation zu tun, aber eben auch mit einem Unbehagen, das all diese Technik ausgelöst hat. Die Cyberspace-Fantasien des Science-Fiction der 80er und 90er trennten noch deutlich zwischen innen und außen, echt und unecht, so daß alle Mischformen Monster waren. Im Falle von „Matrix“ ist diese Grenze endgültig aufgehoben. Dazu gesellen sich einige Einsprengsel aus der gegenwärtig besonders in den USA modischen buddhistischen Glaubenswelt, denn Neo, der Retter, wird als Reinkarnation eines lange verstorbenen Erlösers angesehen.Es läßt sich einiges Kleinliches über die innere und äußere Logik der Geschichte von „Matrix“ sagen, über die neu erworbene Fähigkeit der Menschen etwa, Daten wie Computerprogramme „downzuloaden“ oder über den regelmäßigen Ausfall der Hi-Tech-Waffen, der dafür sorgt, daß sich Gut und Böse, die Terroristen und die virtuellen „Agenten“ des Terrorstaates, immer wieder mittels Kung Fu bekämpfen müssen. Aber ein Hollywood-Film ist kein philosophisches Traktat, er folgt den Gesetzen des Unterhaltungskinos, und diese haben sich die Hersteller von „The Matrix“ gründlich einverleibt. Allen voran Produzent Joel Silver, dem es wohl primär zu verdanken ist, daß „Matrix“ zu einer technisch derart aufwendigen Produktion werden konnte, was insbesondere die Actionsequenzen betrifft, die mit viel zeitgemäßer Superzeitlupe und anderen digitalen Verfremdungseffekten erzeugt wurden. Dadurch, daß das Geschehen in einem Raum jenseits der physikalischen Wirklichkeit angesiedelt ist, standen den Filmemachern gerade in den Kampfszenen alle Freiheiten offen. Die Figuren bewegen sich durch ein Computerprogramm, in dem lichtschnelle Bewegungen ebenso gefordert sind wie millimetergenaue Präzision. Die Brüder Larry und Andy Wachowski lieben aber auch fernöstliche Martial Arts, also vereinten sie den neuesten Stand der Computertechnik mit der jahrzehntealten Technik des Hongkongfilms, Martial-Arts-Kämpfer an unsichtbaren Schnüren durch die Luft fliegen zu lassen. Die Kämpfe wurden zudem konsequent in hochstilisierte Umgebungen gelegt: in Räume und Flure mit kahlen Wänden, auf Hochhausdächer, in U-Bahn-Schächte. Außerdem wurden praktisch alle Farben aus dem Film genommen, Schwarz und Grau beherrschen die neue Welt. Nur die Gesichter der terroristischen Helden bringen ein wenig Tönung in das Breitwand-Geschehen. Larry und Andy Wachowski begannen ihre Karriere mit dem Drehbuch zu „Assassins – Die Killer“
(fd 31 603) und ließen als Regiedebüt die kammerspielartige Psycho-Mafia-Thrillerkomödie „Bound – Gefesselt“
(fd 32 200) folgen. Bereits hier zeigte sich ihre Vorliebe für optische und akustische Gimmicks, für Details, die in den und aus dem Bildvordergrund getragen werden und dabei in den Großaufnahmen einen hörbaren Windstoß erzeugen – eine Vorliebe für absurde Übersteigerungen also, die nach „Matrix“ nur noch schwer zu toppen sind.