Die Vertriebenen
Drama | Frankreich/Moldawien/Deutschland 2024 | 95 Minuten
Regie: Anja Kreis
Filmdaten
- Originaltitel
- FĂRĂ SUFLET
- Produktionsland
- Frankreich/Moldawien/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2024
- Produktionsfirma
- Fortisfemfilm/Pascaru Prod./Midralgar
- Regie
- Anja Kreis
- Buch
- Anja Kreis
- Kamera
- Eugeniu Dedcov
- Schnitt
- Anja Kreis
- Darsteller
- Dana Ciobanu (Angelina) · Maria Tschuprinskaja (Varvara) · Epchil Akchalov (Inosemtsev) · Maria Stepanova (Abtreiberin) · Olesea Sveclă (Patientin)
- Länge
- 95 Minuten
- Kinostart
- 30.01.2025
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 18.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Abgründiger Film über zwei Frauen, eine Philosophieprofessorin und eine Ärztin, die jede für sich mit der Frage ringen, was in einer Welt nach dem Tod Gottes noch Gültigkeit besitzt.
Ein Auto hält in der Nacht. Die Scheinwerfer punktieren die Dunkelheit, in der eine von Bäumen gesäumte, unbefestigte Straße ins Nichts führt. Eine Frau steigt aus dem Wagen aus und verschwindet in der Flucht. Bis zum Ende wird eine offene Frage den Film durchziehen: Wer ist diese Frau?
Die Regisseurin Anja Kreis würde wohl sagen, dass diese Frage falsch gestellt ist. Es geht ihr in „Die Vertriebenen“ vielmehr darum, wohin dieses Bild führt, das wie eine Idee wuchert und seine Fäden zieht, weil die Frage von Einstellung zu Einstellung weitergereicht wird. Und so sieht man auch ein christliches Gemälde die Leinwand ausfüllen, während die Philosophieprofessorin Varvara (Maria Tschuprinskaja) von Herodots Angst vor der Geburt Jesus bis zu Friedrich Nietzsche über die Idee – oder die Sehnsucht nach – dem Tod Gottes philosophiert. Denn erst wenn die Vorstellung von der Existenz eines Schöpfers verschwindet, kann die Frage nach der Natur des Menschen mit unerbittlicher Strenge gestellt werden.
Zwei Möglichkeiten. Zwei Schwestern
Eben diese menschliche Natur scheint in einem namenlosen Ort in Moldawien aus den Fugen zu geraten. Seit die Regierung eine Autobahn hat bauen lassen, breitet sich die Sünde in der Stadt aus. Konkret wird dieser Sittenverfall nie benannt oder gezeigt. Ungewollte Schwangerschaften haben offenbar zugenommen. Ebenso die Prostitution.
Der Film lässt die Figuren den unscharfen Rand besiedeln, an dem man es mit existentiellen Ausläufern zu tun bekommt. Denn zur ohnehin distanzierten Figur der Professorin gesellt sich deren entfremdete Schwester Angelina (Dana Ciobanu). Sie ist eine Ärztin aus Moskau, die an der örtlichen Klinik einen Umgang mit Abtreibungen finden soll und sich sogleich mit der patriarchalen Selbstgefälligkeit und dem religiösen Reinheitswahn eines Priesters auseinandersetzen muss.
Im Leben beider Frauen kommt es zu schwerwiegenden Ereignissen, die einen Taumel in längst verdrängte Schmerzen zur Folge haben. Angelina treibt das Kind einer labilen Frau ab, die behauptet, vom Teufel geschwängert worden zu sein. Und Varvara treibt einem ihrer Studenten seine kosmologischen, bisweilen auch misogynen Ideen aus, indem sie ihn durch die Prüfung fallen lässt.
Ein Kind und eine Idee sind in „Die Vertriebenen“ ein und dieselbe Sache. So wie Angelina den Geist des Kindes nicht loswird, muss sich ihre Schwester des aufdringlichen Studenten erwehren, dessen verzweifelte Bitten zunehmend in Drohungen umschlagen. Überdies gibt es noch ein Geheimnis aus der Vergangenheit, von dem die Anrufe der abwesenden Mutter schweigsam erzählen.
Existenz- und Geburtsschmerz
Wenngleich die Abtreibungen mit schonungsloser Härte gefilmt sind und die Kamera die ausgeschabten Föten in aller Deutlichkeit ins Bild setzt, ist dies nur der Ausgangspunkt für eine schmerzhafte Introspektion. Der Film will keine klassische Geschichte erzählen. Die Motive der Figuren werden nicht psychologisiert. Alles ist Ausdruck, Atmosphäre, in der Moral keine Rolle mehr spielt – obwohl das Leben unentwegt Entscheidungen verlangt.
So spannt die Filmemacherin ein eindringliches Netz aus schuldbefleckter Lust, Mutterschaft und Religion auf. Die beiden Schwestern werden darin zu zwei miteinander verbundenen Möglichkeiten, wie mit dem existentiellen Schmerz des Lebens umzugehen ist. Muss man, um ein Leben oder eine Idee zu schenken, das eigene Leben oder eigene Ideen hergeben? Welche Schuld trägt man als Kind in Bezug auf die Eltern? Das Leben hat einen Preis. Doch wer muss ihn entrichten? Man kann „Die Vertriebenen“ durchaus als filmgewordenen Existenz- oder im übertragenen Sinne als Geburtsschmerz begreifen.
Das Thema des weiblichen Zweifels am Gebären wird indessen immer in die gesellschaftlichen Umstände eingebettet. Frausein gibt es nie ohne Gesellschaft. Alle Männer in „Die Vertriebenen“ agieren in der ewigen patriarchalen Unschärfe, die bis heute den Umgang mit Weiblichkeit prägt. Einerseits fühlen sie sich zu den Frauen hingezogen, sehnen sich nach Sex und animalischer Lust; andererseits ekeln sie sich vor der Fruchtbarkeit der Frauen, und auch vor den Körperflüssigkeiten, die sie in ihrer Abscheu aber dennoch faszinieren. Da kniet der Hausmeister am Boden und greift lustvoll in die Nachblutung, die er schleunigst entfernen soll. Und der Bürgermeister will das Jungfernhäutchen seiner Tochter rekonstruieren lassen, damit sie unbefleckt in die Ehe gehen kann. All das mutet lächerlich an und ist doch nie ohne Gewalt.
Die Welt ist schlecht
Sobald der Film in der Klinik spielt und sich in einer abgeschlossenen, morbiden Welt bewegt, entfaltet „Die Vertriebenen“ einen ungemeinen Sog, der an den grandiosen Horrorfilm „Possession“ (1981) von Andrzej Żuławski erinnert. Wenn die angeblich vom Teufel geschwängerte Frau nach der Abtreibung in ein abgründiges, verstörend unheimliches und seltsam spöttisches Gelächter ausbricht, entlarvt sie die Doppelmoral von Angelina, die diese Abtreibung niemals hätte vornehmen dürfen. Denn jeder Eingriff in den Körper einer anderen Frau ist eine Arbeit am eigenen Schmerz.
Der mit Unschärfen und Kontrasten spielenden Kamera gelingt es, einen unterkühlten Horror einzufangen, der dieses mysteriöse Drama in schneidende Bilder taucht. Dieser Stärke beraubt sich der Film aber durch den verkopften, prätentiösen Umgang mit der Philosophie. Man spürt zu jedem Zeitpunkt, dass Anja Kreis einen nietzscheanischen Film drehen wollte; zumindest wird dies in den Dialogen behauptet. Doch den kargen Gängen der Klinik hätte ein dionysischer Witz als Gegengewicht gutgetan. Von der fröhlichen Wissenschaft und der freudvollen Provokation des deutschen Philosophen ist hier nichts zu spüren. Stattdessen dominiert der Pessimismus Schopenhauers: Die Welt ist schlecht und wird es immer bleiben. Die Figur von Varvara entpuppt sich damit als intellektueller Ballast eines Films, der diese ausgestellte, sich aufspreizende und etwas eitle Klugheit überhaupt nicht nötig hätte.