Nachmittage der Einsamkeit
Dokumentarfilm | Spanien 2024 | 131 Minuten
Regie: Albert Serra
Filmdaten
- Originaltitel
- TARDES DE SOLEDAD
- Produktionsland
- Spanien
- Produktionsjahr
- 2024
- Produktionsfirma
- LaCima Prod./3Cat/A Contracorriente Films/Andergraun Films/Arte France/Idéale AudienceRadio Televisión Española (RTVE)/Rosa Filmes/Tardes de Soledad
- Regie
- Albert Serra
- Buch
- Albert Serra
- Kamera
- Artur Tort
- Musik
- Ferran Font · Marc Verdaguer
- Schnitt
- Albert Serra · Artur Tort
- Länge
- 131 Minuten
- Kinostart
- 01.05.2025
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Eindrucksvoller Dokumentarfilm über einen jungen Torero, dessen Auftritte in der Arena als tanzartige, brutale Choreographien präsentiert werden und die Monotonie der Stierkämpfe offenbaren.
Vor Albert Serras Stierkampf-Dokumentation „Nachmittage der Einsamkeit“ denkt man zunächst an den Titel der Episode 2b aus Jean-Luc Godards Videoserie „Histoire(s) du cinéma“, „Fatale Beauté“: Fatale Schönheit, tödliche Schönheit. Die Schönheit des von Serra gefilmten Rituals ist brutal und tödlich (für den Stier, und das jedes Mal), besudelt vom Blut, das im Film nicht aufhört zu fließen. Wenn Serra auch keinen moralischen Blick auf den Vorgang wirft, den sich gerade bei diesem Thema heute viele erwarten mögen, kann man umgekehrt kaum behaupten, dass sein Blick in irgendeiner Weise romantisierend sei.
Godards Episode 2b der „Histoire(s)“ handelt vom Tod und darum, dass es im Kino niemals ein Bild „allein“ gibt, sondern immer zwei, die zueinander finden müssen, wie zwei Figuren, die sich anziehen und aufeinander zurennen, und die sich dabei töten und auslöschen: Ein Bild verblasst, um einem anderen Platz zu machen. Aus diesem Grund hat diese Episode auch mit der Einsamkeit zu tun, die schon in der früheren Episode 1b, „Une histoire seule“ („Eine einsame Geschichte“) behandelt wird. Die Bilder des Kinos brauchen sich, aber bleiben doch immer allein. Diese Einsamkeit findet sich sowohl im Titel von Serras Film wie auch in diesem selbst.
Das Spektakel streng reduziert
Albert Serra beobachtet den berühmten 28-jährigen peruanischen Torero Andrés Roca Rey bei Stierkämpfen in spanischen Arenen. Andere Szenen spielen im Bus, der Rey und seine Mitstreiter zu den Kämpfen bringt und von dort wieder abholt (die Kamera ist stets an derselben Stelle montiert, die Einstellung stets identisch), sowie im Hotelzimmer (beim Einkleiden). Dies sind die wenigen Orte des Films. In der Arena ist das Publikum zwar hörbar, bleibt aber stets jenseits der Einstellung. Der Film mag in seinen Szenen absolut spektakulär sein. Und doch wird das Spektakel streng reduziert. Der Fokus liegt niemals auf der „Aufführung“ des Stierkampfs, auf den Leuten, die ihm beiwohnen, den kulturellen oder ethischen Aspekten, sondern allein auf Rey, seinen Bewegungen, seinen Gesten und seiner Mimik. Das heißt: auf ihm und dem – jeweils neuen, erneut zu tötenden – Stier.
Die ersten zwei Einstellungen zeigen sie getrennt voneinander: Erst einen „Toro“ in der Dunkelheit, dann Rey in seinem Bus. Gemeinsam müssen diese beiden „Bilder“ in der Folge immer wieder erneut das Bild (des Films) herstellen, wobei eines (der Stier) sein Leben lassen muss, damit das andere (Rey) überlebt. Dadurch fällt Rey immer erneut in seine Einsamkeit zurück, aus der ihm nur der nächste Stier wieder heraushelfen kann – oder seine Gehilfen im Auto. Nach und vor seinen Auftritten wirkt der Star-Torero ungerührt, manchmal fast dissoziiert und seltsam isoliert, während seine Freunde ihn wiederholt und gebetsmühlenartig mit Komplimenten überschütten und ihm versichern, dass dieser oder jener Nachmittag in der Arena einen „Unterschied gemacht“ und Rey die „größten Eier“ habe (der Arena, Madrids oder der ganzen Welt).
Was sie vereint, ist das Rot des Blutes
Bemerkenswert ist, dass Serra den Stier wie einen Torero filmt, und den Torero wie einen Stier. Was sie vereint, ist das Rot des Blutes, der Stoffe und der Bordüren, aber auch ihre unzugängliche Innerlichkeit, die alle bisherigen Spielfilme von Serra ebenso auszeichnet wie seine erste Dokumentation. Die Schauspieler der Fiktionen kriegen vom Regisseur keine Anweisungen, bleiben im Unklaren, wissen nicht, wann sie gefilmt werden, sind der Möglichkeit beraubt, ihr eigenes Bild zu kontrollieren, so zuletzt im genialen „Pacifiction“. Geschieht in den Fiktionen dieser „Bildraub“ mit dokumentarischen Mitteln, dann vollzieht er sich bei den „echten“ Figuren (seien sie Menschen oder Tiere) von „Nachmittage der Einsamkeit“ durch die Fiktion, weil man das Innenleben von Rey und der Stiere niemals kennenlernt: Die Fiktion ist in dieser Dokumentation keine Erzählung, kein Diskurs, sondern sie entsteht aus einer fokussierten Leerstelle im Realen, aus einem Nullpunkt, einer schieren Spekulation.
Darin besteht die großartige Irritation dieses Films: Als würde man nicht verstehen, was genau man da sieht. Eine Dokumentation über Stierkampf, sicher. Aber auch einen Film über einen Mann (Roca Rey), der sich durch seine Gesten, seine Grimassen, seine Schreie und die Abfolge seiner Bewegungen an jemanden oder etwas richtet. Aber an wen oder was? An die Besucher der Arena, Serras Kameras oder seine Gehilfen jenseits der roten Planken? An die Befürworter oder die Gegner der Corrida? An den Stier, den er nur töten kann? Aber so, wie Serra seinen Protagonisten mit der Kamera isoliert, laufen all diese Adressen ins Leere.
Die Anrufung von etwas Absolutem
Diese Anrufung, diese Adresse ohne konkrete Adressaten, die sich höchstens an ein Jenseits oder an etwas Absolutes (und absolut Abwesendes) richtet, macht das eigentliche Genie von Serras Kino aus. Don Quichotte in „Honor de Cavalleria“ wandte sich an Gott, den Ruhm oder den Himmel, der von Benoît Magimel gespielte französische Beamte in „Pacifiction“ an leere, paranoide Vorstellungen von bevorstehenden Atomtests und U-Booten vor einer pazifischen Insel.
Was Rey betrifft, so richtet er sich vielleicht nur noch an sein eigenes (isoliertes) Bild. Also an eine Einsamkeit, die er mit dem Stier teilt und die er mit ihm überwindet, um wieder in sie zurückzufallen. Dieses einsame Bild, das im Film ohne Publikum, also ohne Empfänger bleibt, hört aber nicht auf, sich weiterhin zu adressieren. Mit ihm richtet sich der Film in letzter Instanz allein an sein Publikum, also an uns. Er muss in seiner Gänze und seiner ganzen Brutalität angenommen und gesehen werden, um zu existieren.