Wie knatschig so ein Bär nach dem Winterschlaf sein kann – man will es sich eigentlich gar nicht vorstellen! Ernest ist schon sehr grummelig, als ihn die kleine Maus aus dem Schlummer holt. Monate habe er schon geschlafen, jetzt soll er aber bitte wach werden! Célestine ist unbarmherzig liebevoll, aber auch sie muss dann feststellen, dass die Schränke leer sind, kein Essen mehr da.
Geld muss her, schnell, aber als sie zum Musizieren aufbrechen wollen, kommt ein hektischer Moment zum anderen, und plötzlich ist Ernests alte, wertvolle Geige, eine echte Bärivarius, zerbrochen. Niemand kann sie reparieren, nur der Geigenbauer in Ernests alter Heimat – aber auf gar keinen Fall will der Bär dorthin zurück. Lieber spielt er nie wieder Musik. Aber natürlich lässt Célestine, die immer schon schnell begeisterte Maus, sich davon nicht abbringen. Allein bricht sie auf, nur mit einer Karte und einem dünnen Mantel ausgerüstet. Ernest folgt ihr sorgenvoll und muss sie auch prompt aus einem Schneesturm retten, denn der Zugang zu Charabien liegt hoch in den Bergen.
Wo Musik verboten ist
Doch als sie endlich angekommen sind, erwartet sie ein vielschichtiger Albtraum: Musik ist hier verboten, wo einstmals überall Gesang und Instrumente erklangen. Nur eine kleine Gruppe leistet Widerstand dagegen. Und Ernests Vater will den Sohn endlich dazu bringen, wie er Richter zu werden, denn so mache man es in diesem Land: „So ist das, und nicht anders!“
Die Regisseure Julien Chheng und Jean-Christophe Roger erzählen in „Ernest & Célestine: Die Reise ins Land der Musik“ die Geschichte des Bären Ernest und der Maus Célestine weiter, die filmisch 2012 in „Ernest & Célestine“ begonnen wurde. Die Figuren basieren auf den gleichnamigen Bilderbüchern der belgischen Autorin und Illustratorin Gabrielle Vincent (1928-2000), die hierzulande zunächst als „Mimi und Brumm“ erschienen waren. Ihren Charme bekommen die Filme nicht unwesentlich durch die Ästhetik, die den Zeichnungen Vincents nachempfunden ist: elegant hingetuschte Konturen, zuweilen unvollständig, aber stets lebendig. Und dann Totalen über Landschaft und Stadt mit tausenderlei Details, wilden Seilbahnkonstruktionen und mehr.
In der Animation ist viel Raum für visuellen Witz, manchmal wechseln Gegenstände und Personen ihre Größe, wenn es gut in die Geschichte passt. Alles geht, nichts muss. In Charabien gibt es unzählige Regeln; wenn ein Paar sich trennt, wird das Haus geteilt: wortwörtlich, mittendurch. Und weil Musik verboten ist, nur eine einzige Note, das C, gespielt werden darf, ist ein Konzert schon mal recht eintönig und nur durch Rhythmus interessant.
Die Singvögel nehmen die Melodien auf
Aber natürlich schleicht sich, nicht erst mit Ernest, die Musik ins Leben ein. Dafür sorgen schon allein die Singvögel, die von der Polizei mit Wasserschläuchen gejagt werden, damit sie nicht illegal in der Gegend herumsingen; wie zum Trotz nehmen sie die Melodien der Untergrundbewegung auf und tragen sie weiter: Die Spottdrosseln aus „Die Tribute von Panem“ lassen schön grüßen.
Im ersten Film wurde der auch durchaus politisch komplexe Hintergrund der Geschichte elegant über die beiden Hauptfiguren erzählt, über ihre wachsende (und anfangs gar nicht einfache) Freundschaft. In „Ernest & Célestine – Die Reise ins Land der Musik“ ist diese enge Freundschaft, man muss es eigentlich mit dem richtigen Namen benennen, diese tiefe Liebe zwischen Bär und Maus Vorbedingung der Geschichte und wird auch nie in Frage gestellt. Das gibt dem Film Sicherheit und Ruhe, mit denen sich auch ein junges Publikum gelassen auf die Auseinandersetzungen einlassen kann; dafür fehlen dem Film etwas die Komplexität und der Biss in der Beobachtung davon, wie Traditionen und Vorurteile eine Gesellschaft verhärten und Familien zerbrechen lassen können. So kommt dann auch die Auflösung im Finale ein wenig simpler daher, als der erste Film das noch gelöst hatte.
Aber das ist Jaulen auf höchstem Niveau. „Ernest & Célestine“ bleibt einer der schönsten, herzzerreißendsten und cleversten Animationsfilme der 2010er-Jahre, und Chheng und Roger nehmen die Melodie dieses Vorbilds gekonnt auf und komponieren aus ihr eine ganz eigene Variation. Es ist ein Glück, sie zu sehen und zu hören.