Drama | Spanien 2023 | 113 Minuten

Regie: Lois Patiño

In Laos besucht ein angehender Mönch täglich eine alte Frau in ihren letzten Lebenstagen, um ihr aus dem buddhistischen Totenbuch vorzulesen; in Tansania erlebt ein Mädchen in einem Fischerdorf die Geburt einer Ziege und die Bedrohung einer Algenfarm durch Abwässer aus einem Hotel. Verbunden sind die beiden meditativen Teile durch eine audio-visuelle Sinnesreise, die den Übergang von einer Daseinsform in die nächste nachempfindet. Im Zwischenbereich von Fiktion, Dokumentation und Experiment erforscht der Film auf immersive Weise die Möglichkeiten des Kinos, spirituelle Erlebnisse erfahrbar zu machen, greift dabei aber durchaus auch die gesellschaftliche Wirklichkeit aber durchaus auf. - Ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
SAMSARA
Produktionsland
Spanien
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Señor & Señora
Regie
Lois Patiño
Buch
Garbiñe Ortega · Lois Patiño
Kamera
Mauro Herce · Jessica Sarah Rinland
Schnitt
Lois Patiño
Darsteller
Amid Keomany (Amid) · Toumor Xiang (Be Ann) · Simone Milavanh (Mon) · Mariam Vuaa Mtego (Mariam) · Juwairiya Idrisa Uwesu (Juwairiya)
Länge
113 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama

Ein spiritueller Film im Zwischenbereich von Fiktion, Dokumentation und Experiment, in dem ein angehender buddhistischer Mönch eine sterbende Frau besucht und ein Mädchen aus Tansania mit Umweltbelastungen zu kämpfen hat.

Diskussion

Eine alte, schwerkranke Frau verabschiedet sich von den materiellen Dingen, die sie umgeben. „Hallo, Tisch, ich werde dich so vermissen. Ich habe so viele Worte auf dir geschrieben, ich habe viel Wissen von dir erlangt.“ Weiter gilt ihr Dank dem Spiegel und dem Bett, auf dem sie all die Jahre so gut geschlafen hat.

In ihren letzten Lebenstagen bekommt sie Besuch von Amid, einem jungen Mann, der ihr täglich aus dem buddhistischen Totenbuch vorliest. Der Übergang von Tod zu Wiedergeburt, Bardo genannt, und die Rolle von Licht und Klang als Wegweiser in den nächsten Körper sind darin genau beschrieben. Die Sterbende kann ihre Reise gut vorbereitet antreten.

Schwebezustände gibt es in „Samsara“ viele. Schlafen, Träumen, Meditieren, Sterben – die dem Wachsein enthobenen Formen sind alle miteinander verwandt. In der Anfangsszene des Films streift die Kamera mit einem langsamen, fast trancehaften Schwenk durch den Raum eines buddhistischen Klosters. In orangefarbene Gewänder gekleidete Novizen sitzen mit geschlossenen Augen auf dem Fußboden und meditieren. Es sind heranwachsende junge Männer und Kinder, die sich alle auf inneren Reisen befinden; manchmal meldet sich ein Bedürfnis und einer kratzt sich am Kopf oder gähnt.

Bis der Schwenk am anderen Ende des Raumes angelangt ist, vergeht Zeit. Die Bewegung selbst wirkt meditativ. Mehrfach überlagern sich im Film Bilder schlafender Menschen mit Zeichnungen; wie eine lichte Wolkendecke ziehen sie über die Leinwand.

Spirituelle Erlebnisse immersiv erfassbar

Nach dem Natur- und Geisterfilm „Red Moon Tide“ (2019) erforscht der spanische Filmemacher Lois Patiño erneut die Möglichkeiten des Kinos, spirituelle Erlebnisse immersiv erfahrbar zu machen. Dabei verlässt Patiño erstmals seine galizische Heimat, um sich zwei verschiedenen nicht-westlichen Kulturen – und Glaubenssystemen – zuzuwenden. Die Schauplätze sind Laos und Tansania. In „Samsara“ fungieren sie wie zwei Körper, die in der Mitte durch eine Passage miteinander verbunden sind.

Amid erzählt einmal, dass man nach dem Tod noch einige Stunden höre. Als die Frau stirbt, weist eine Texteinblendung die Betrachter:innen an, die Augen zu schließen und die Sterbende auf ihrer Reise zu begleiten. Für etwa fünfzehn Minuten taucht „Samsara“ in einen audio-visuellen Erfahrungsraum aus Klängen und Licht ein. Naturgeräusche wie Donner, Regen und Meeresrauschen sind zu hören, Gesprächsfetzen und andere akustische Erinnerungsfragmente, dazu trifft Licht in rhythmischen Bewegungen auf die Netzhaut und erzeugt Farbeindrücke und Muster.

Es ist erstaunlich, was man mit geschlossenen Augen alles sehen kann. Die von den Beatnik-Künstlern Brion Gysin und Ian Sommerville erfundene „Dreamachine“ kommt einem in den Sinn, eine Leuchte, die mittels Stroboskopeffekt eine optische Stimulierung des Gehirns bewirkt. Aber auch die Lichtinstallationen von James Turrell, eine Referenz auch in Apichatpong Weerasethakuls Film „Cemetery of Splendour“.

Der immerwährende Zyklus des Seins

Der Titel „Samsara“ bezeichnet in Sanskrit den immerwährenden Zyklus des Seins, den Kreislauf von Werden und Vergehen oder den der Wiedergeburt. In seiner Mischung aus Fiktion, Dokumentation und Experiment ist „Samsara“ selbst in einer Art Bardo zu Hause. Dabei ist der Film der gesellschaftlichen Wirklichkeit durchaus zugewandt. Patiño folgt den angehenden Mönchen bei ihren Alltagsverrichtungen. Man sieht sie beim Kochen, Waschen, Abhängen und beim Ausflug zu einem Wasserfall im Dschungel. Wie andere Jugendliche daddeln die Novizen in ihrer freien Zeit auf ihren Handys herum.

Im zweiten Teil erwacht der Film an der Seite eines Mädchens und einer neugeborenen Ziege. Juwairiya, die mit ihrer Familie in einem an der Ostküste Sansibars gelegenen Dorf lebt, ist wissbegierig; ihre Mutter verdient ihr Geld mit Arbeiten auf einer Algenfarm. Ganz beiläufig erfährt man in den Gesprächen von den Umweltbelastungen durch die nahegelegenen Hotels. Das bei der Poolreinigung verwendete Wasser fließt direkt auf die Felder, die Pflanzen, die zu Seife und Lotion weiterverarbeitet werden, bekommen Krankheiten, Fische sterben.

Weiche Texturen und kräftige Farben

Das Artifizielle und Gemachte ist in „Samsara“ stets mit in das Meditative eingetragen. Die 16mm-Bilder des Films haben weiche Texturen und kräftige, mitunter glühende Farben. Am Anfang bestimmen die leuchtenden Orangetöne von Mönchskutten und Blumen das Bild, später das übersteuerte Grün der Algen. Die Arbeit mit der Farbe ist bei Patiño fast schon Alchemie. Leicht und spielerisch verwebt er visuelle Magie und Alltag.

Kommentar verfassen

Kommentieren