Bevor Joan Baez Musikerin, Bürgerrechtlerin und Aktivistin wurde, war sie bereits eine Chronistin ihres eigenen Lebens. Sie schrieb Tagebuch, dokumentierte und kommentierte ihr Leben in Form von Zeichnungen. Später, als sie von Konzert zu Konzert tourte, teilte sie sich über Briefe und Audiokassetten mit, die sie ihren Eltern von unterwegs zuschickte. Diese privaten Aufzeichnungen, zu denen auch Fotos und Home Movies gehören, sind in „Joan Baez – I Am Noise“ eine eigene Erzählinstanz. Sie stehen neben Archivbildern von Konzerten, Fernsehauftritten und politischen Demonstrationen sowie Backstage-Momenten ihrer Abschiedstour 2018.
Um diese Tour ranken sich ausführliche Gespräche, die Karen O’Connor, Miri Navasky und Maeve O’Boyle mit Baez vor ihrem Rückzug aus der Öffentlichkeit über mehrere Jahre geführt haben. In der Zusammenstellung dieser reichen Materialien ist ein dichter Film entstanden, der sich auf verschiedenen zeitlichen Spuren bewegt. Der biografische Film wird außerdem durch Erinnerungserzählungen und Standortbestimmungen erweitert, was mitunter auch Formen eines „Soul Searching“ annimmt.
Ein glockenheller, klarer Sopran
Joan Baez, die auf ihrer letzten Tournee kurz vor ihrem 80. Lebensjahr stand, lebt in einem komfortablen, in der kalifornischen Natur versteckten Haus mit Pool und Garten. Zu Beginn des Films sieht man sie bei der Arbeit mit einer Gesangstrainerin. Ihre berühmte „reine“ Stimme, ein heller, glockenklarer Sopran, der mühelos schwindelnde Höhen erreichte und maßgeblich an dem etwas fragwürdigen Titel „Jungfrau Maria“ Anteil hatte, ist im Film immer wieder Thema. Sie klingt nun wesentlich rauer und tiefer; einmal fällt auch das Wort „ehrlich“. 60 Jahre Lebenserfahrung, so räumt Baez nicht ganz ohne Bedauern ein, hätten sich darin eingeschrieben.
Mit dem Stichwort „Stimme“ verband sich in Bezug auf Joan Baez aber schon immer mehr. Sie galt als Stimme der US-amerikanischen Protestbewegung der 1960er-Jahre, als Stimme der Aufrichtigkeit. Auch der Titel des Films verdankt sich dem metaphorischen Organ: „I’m no saint. I am a noise“, notierte Baez als junge Teenagerin, die das Singen gerade für sich entdeckt hatte, in ihr Tagebuch.
Dass die Musikerin Zugang zu ihrem privaten Archiv gewährte und über ihre „inneren Dämonen“ Auskunft gibt, verdankt sich der langjährigen Freundschaft zu einer der Regisseurinnen, Karen O’Connor. Panikattacken begleiteten Joan Baez schon früh. Ab dem 16. Lebensjahr war sie in therapeutischer Behandlung; in den Patientenakten ist von einer „instabilen Persönlichkeit“ die Rede. Die Ängste verhinderten jedoch nicht, dass Baez die Öffentlichkeit und das große Publikum suchte. Mit „What I Believe“ überschrieb sie als 13-Jährige ein illustriertes „Mission Statement“. Baez setzt sich darin in ein Verhältnis zum Kosmos, erkennt sich als „kleinen Punkt“ und leitet für sich daraus eine Erkenntnis ab: „Wie sinnlos, wenn dieser Punkt sein kurzes Leben damit verbringt, Dinge für sich selbst zu tun. Er sollte besser dazu beitragen, dass es den weniger glücklichen Punkten besser geht.“
An vorderster Front
1959 stand Baez im „Club 47“ auf der Bühne, einem Folk-Club in Cambridge; noch im selben Jahr sang sie auf dem Newport Folk Festival und wurde über Nacht zum gefeierten Star. Sie zierte das Cover des „Time Magazine“, tourte mit dem jungen Bob Dylan, den sie förderte und mit dem sie ein Liebesverhältnis einging. Ihre Prominenz nutzte Baez auch für ihr politisches Engagement. 1963 demonstrierte sie beim „March on Washington for Civil Rights“ an der Seite von Martin Luther King, und auch beim Demonstrationszug von Selma nach Montgomery marschierte sie ganz vorne mit. 1965 heiratete sie den Kriegsdienstverweigerer David Harris und gründete das „Institute for the Study of Nonviolence“.
Baez’ Offenheit im Sprechen über Verletzungen und Abgründe – etwa über das von Dylan gebrochene Herz, die schwierige Beziehung zu ihren beiden Schwestern, die auf jeweils eigene Weise mit Joans Überpräsenz kämpften, der Wechsel aus Hochstimmungen und Abstürzen, der bis zuletzt auf schwankendem Grund stehende Verdacht des Missbrauchs durch den Vater – ist von jahrzehntelanger Therapie geprägt. Dass die Stimme ihres Therapeuten immer wieder zum narrativen Faden wird und er Anweisungen zur Körperentspannung und Vergangenheitsreise gibt, verleiht „Joan Baez – I Am A Noise“ einen Touch „New-Age-Spiritualismus“. Dafür muss man empfänglich sein.
Ein sprechendes Archiv
Auch besitzt der Film einen gelegentlichen Hang zum Überladenen, wenn etwa Baez’ Zeichnungen, die anzusehen genügt hätte, zu Bewegtbildern animiert werden. Faszinierendes Zentrum des Films ist neben der Person von Joan Baez aber das Archiv im Haus der Musikerin. Schachteln stapeln sich, die Schubladen sind voll mit Kassetten und Zeichnungen. Dabei haben O’Connor, Navasky und O’Boyle nur einen Bruchteil des Schatzes geborgen.