Seneca - Oder: Über die Geburt von Erdbeben

Historienfilm | Deutschland/Marokko/Frankreich 2023 | 112 Minuten

Regie: Robert Schwentke

Als Erzieher des römischen Kaisers Nero ist der wortgewandte Philosoph Seneca (1-65) zu einem der wohlhabendsten Männer des Kaiserreiches aufgestiegen. Doch als sich dessen Herrschaft in Tyrannei verwandelt, beginnt auch Senecas Stern zu verblassen. Er wird der Verschwörung gegen Nero angeklagt und zum Selbstmord gezwungen. In einem wilden, postmodernen Bilderschwall entfacht die absurde Politkomödie eine überdeutlich allegorische Auseinandersetzung mit den ideologischen Sackgassen einer korrumpierten Gesellschaft. Eine überladene Parabel über Macht und Machtmissbrauch, die allzu sehr auf die Gegenwart zielt. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Marokko/Frankreich
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Filmgalerie 451/Gretchenfilm/Kasbah-Films/ZDF/arte
Regie
Robert Schwentke
Buch
Robert Schwentke · Matthew Wilder
Kamera
Benoît Debie
Musik
Martin Todsharow
Schnitt
Michal Czarnecki
Darsteller
John Malkovich (Seneca) · Tom Xander (Nero) · Geraldine Chaplin (Lucia) · Louis Hofmann (Lucilius) · Lilith Stangenberg (Pompeia Paulina)
Länge
112 Minuten
Kinostart
23.03.2023
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Historienfilm | Komödie | Satire

Heimkino

Die BD-Edition enthält eine Audiodeskription für Sehbehinderte. Die Extras der BD umfassen u.a. das ausführliche „Making of“ „Visiting Seneca“ (41 Min.), die Pressekonferenz auf der Berlinale 2023 (32 Min.) und ein längeres Interview mit Hauptdarsteller John Malkovich (10 Min.). Die BD-Edition ist mit dem Silberling 2023 ausgezeichnet.

Verleih DVD
Weltkino (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./dt.)
Verleih Blu-ray
Weltkino (16:9, 2.35:1, dts-HDMA engl./dt.)
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Satirisches Rede-Drama über die letzten Tage des römischen Philosophen Seneca, der von Kaiser Nero zum Selbstmord gezwungen wird.

Aktualisiert am
23.01.2025 - 10:51:24
Diskussion

Selten hat sich ein Film mit solcher Vehemenz gegen die intellektuellen Grundfesten seines Protagonisten gestemmt wie „Seneca“ von Robert Schwentke. In einem wilden, postmodern knallenden Schwall an bunten Bildern entfacht der Film eine überdeutlich allegorische Auseinandersetzung mit leeren Worten, Heuchelei und den ideologischen Sackgassen einer korrumpierten Gesellschaft. Jedes Bild schreit einen an: Das ist heute, das ist jetzt, das ist superpolitisch!

Dass der berühmte römische Philosoph und Tragödiendichter Lucius Annaeus Seneca in seinen Schriften das Maßvolle beschwor, nutzt Schwentke umso mehr, um das Verschwenderische, Ausufernde im Leben und im theatralen Kino zu befeuern. Sein Film ist zugleich ein Abriss von Senecas Leben wie auch eine parabelhafte Nervenprobe von dessen letzten Stunden, nachdem er von seinem langjährigen Schüler, dem Kaiser Nero, zum Selbstmord gezwungen wird, da dieser ihn der Teilnahme an der Pisonischen Verschwörung bezichtigt.

Ekstase des Grauens

Nun hat man in den vergangenen Jahren viele Filme und Serien gesehen, die sich an der angeblichen Dekadenz historischer Wirklichkeiten berauschen. Doch kein Film ging bislang so weit wie „Seneca“, der Nero (Tom Xander) als fettleibiges, tätowiertes Riesenbaby blutige Orgien feiern lässt und John Malkovich als Seneca mit an sich selbst erstickender rhetorischer Arroganz an der Verunmenschlichung des Seins arbeiten lässt, während Senecas Frau Paulina (Lilith Stangenberg) zwischen somnambuler Eitelkeit und musenhafter Passivität dahinschwebt. Fast jede Szene wirkt ein bisschen so, als hätte der Regisseur bei der Theaterprobe angegeben, dass im nächsten Durchgang alle Zurückhaltung abgelegt werden solle. Die daraus resultierende Expressivität bereitet durchaus Freude, löst sich aber schnell in Übersättigung auf. Das liegt auch daran, dass der Film für die Ekstase des Grauens jegliches Rhythmusgefühl über Bord wirft.

Schwentke geht es dabei nur am Rande um die recht simple Handlung mit einem in Ungnade gefallenen Berater des Kaisers; es geht vielmehr um einen Angriff auf die Macht und Ohnmacht der Worte, genauer gesagt, jener Worte, die etwas versprechen, was sie nicht halten können. Dafür ist der Inszenierung jedes Mittel recht; die historischen Vorlagen werden zum bloßen Spielball. Auf diesen bis zur nervlichen Überlastung durchgekauten Worten, daran lässt der Film keinen Zweifel, wurde auch unsere Gesellschaft errichtet. Daher wird genau registriert, wie und wann sie gesprochen werden, aus welcher Position und mit welchem Vorhaben. Was bedeutet es, wenn jemand von Moral spricht, aber seine eigene gleichzeitig vergisst?

Die Worte in diesem Film gehören gar nicht mehr zu einer wie auch immer gearteten Person, die sie spricht, sie richten sich auf ein entmenschlichtes Wertesystem, das überdies zu genau weiß, was sich gehört, was provoziert, was fortbestehen könnte. Man kommt nicht umhin, sich diesen Seneca mit einem Mobiltelefon in der Hand vorzustellen, wie er seine Weisheiten in den Sozialen Medien kundtut. So weit geht der Film dann aber doch nicht mit seiner Verortung im Heute. Als Film über die Perversion von Sprache trifft „Seneca“ zeitweise aber voll ins Schwarze; er macht sich gleichzeitig aber auch mitschuldig an der grassierenden Irrelevanz solcher Diskurse. Denn was als Hülle entlarvt wird, wird selbst wieder zur Hülle. Man hat aufgrund der Inszenierung schlicht nicht das Gefühl, dass es hier um irgendetwas geht, außer um ein Spektakel der Perversion.

Alles ist Theater

Dieser Seneca und die ihn umgebende Elite Roms verhandeln allgemeingültige, stoische Werte auf der Grundlage eines privilegierten Lebens. Seelen werden verkauft, um gut zu leben und dann zu lehren, wie ein gutes Leben aussehen könnte. Dass man dafür mit brutalen Diktatoren ins Bett steigt, erklärt sich von selbst. Man hat genug zu leben, wie Seneca schrieb, aber nicht lange. So viel zur Holzhammer-Rhetorik des Films, der auf alles zugleich zu zielen scheint, auf Trumpismus, Putin, die ganze kaputte, sich auf Wohlstand und Follower und leere Worte berufende kapitalistisch-verseuchte, verlogene Welt.

So begleitet die penetrante Handkamera Seneca und dessen unablässige, im Sog-erzeugenden Malkovich-Englisch dargebotenen Philosophie-Ergüsse auf seinem Landdomizil, wo er auch seine berühmte Tragödie „Thyestes“ im Stile eines partizipativen Theaters aufführen lässt. Jede seiner Handlungen im Film ist Theater, ist für ein Publikum gemacht, egal ob es dieses gibt oder nicht. Darauf muss man bei „Seneca“ gefasst sein, der das Anstößige und Regelbrechende auch in mancher Gewaltdarstellung sucht, etwa wenn in einer sehr langen Einstellung Pulsadern zerschnitten werden. Es ist ziemlich irre und frech, wie hier historische Ereignisse spekulativ gewendet werden, um die Geschichte vollends aufzulösen. Schwentkes „Seneca“ kommt aus einer Welt, die jeglichen Respekt vor Genauigkeit und Demut gegenüber der Vergangenheit abgelegt hat, um größtmögliche Effekte zu erzielen. Damit entspricht das Vorgehen des Regisseurs exakt dem, was der Film unter anderem anklagt. Es steht einem Künstler natürlich frei, die Geschichte nach seinem Gusto zu verändern, aber es steht dem Kritiker ebenso frei, darauf hinzuweisen, dass derartige Geschichtsbilder selten hilfreich waren.

Alles zielt auf das Heute

Alles zielt in „Seneca“ auf ein Heute, das im Film ständig mitschwingt und verhindert, dass man irgendwas sieht auf der Leinwand. Jedes Bild verweist aus sich heraus und wird damit obsolet. Das beginnt damit, dass der Kaiser als „Präsident“ angesprochen wird; es setzt sich fort über Bilderfetzen, die eine apokalyptische Klimakrise evozieren, und grelle Texteinblendungen wie aus Musikvideos, und gipfelt in den abstrakten Moraldiskursen über Wohlstand, Komplizenschaft und Loyalität. Dadurch kollidieren der subversive Anspruch dieses ungewöhnlichen Films und sein letztlich braver, bürgerlicher Kritikanspruch. Heraus kommt ein merkwürdiges Hybrid, das den Zeitgeist unfreiwillig gut trifft, wenn es an jene erinnert, die glauben, auf Twitter gegen den Kapitalismus zu demonstrieren, oder an jene, die Gas aus Katar importieren, während sie Fußballspielern Moralvorträge halten. Am meisten aber ist „Seneca“ ein Symptom seiner Zeit, weil er nichts von all dem wirklich explizit sagt, sondern alles offen genug lässt, damit man sich denken kann, was man will. Ob solche Filme zu einem glückseligen Leben verhelfen, sei dahingestellt.

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