Der Schauplatz ist karg und nüchtern. Unverkleidete, fensterlose Betonwände weisen auf einen großen Keller hin, doch sicher ist das nicht; es gibt keine ausschmückenden Elemente, die Orientierung böten. Jetzt beginnt ein Mann in Nahaufnahme zu berichten. Es ist der Schweizer Carl Schrade (dargestellt von Bernd Michael Lade, der auch Regie führt). Von 1934 bis 1945 hatte Schrade als Häftling der KZs Buchenwald, Lichtenburg, Esterwegen, Sachsenhausen und Flössenburg die Gräueltaten der Nazis aus nächster Nähe miterlebt; als Zeuge der Anklage sagt er jetzt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg vor einem US-amerikanischen Gericht aus.
Um seinen Respekt zu bekunden, bittet er zunächst darum, trotz seiner deutschen Muttersprache Englisch reden zu dürfen. Zwei Frauen wechseln sich von nun an bei der Übersetzung ins Deutsche ab, eine von ihnen ist vom Erzählten zunehmend erschüttert. Die Information verdoppelt sich durch die Zweisprachigkeit und wirkt darum umso grausamer.
Täter- und Opferaussagen
Die Kamera zeigt die Angeklagten mit umgehängten großen Nummern vor dem Bauch: SS-Männer, NSDAP-Funktionäre und Ilse Koch, die Frau des berüchtigten KZ-Kommandanten Karl Otto Koch. Im Hintergrund stehen zwei amerikanische MP-Soldaten Wache, zwischendurch fällt der Blick auf Richter, Beisitzer und Staatsanwälte. Die Bilder wechseln von Farbe zu Schwarz-weiß, je nachdem, wer spricht. Das ist ein etwas schlichtes, offensichtliches Konzept, das die Dialektik des Films betonen soll: Täter- und Opferaussagen stehen sich diametral gegenüber.
Maria Simon spielt eine US-Reporterin, die die Aussagen der Angeklagten vom Deutschen ins Englische übersetzt. Auch sie ist nur in Schwarz-weiß zu sehen. Dieses Verfahren wirkt sehr spröde, sehr stilisiert, ein Eindruck, der durch die strenge Anordnung aller Beteiligten im Raum noch unterstrichen wird.
Die Worte des Zeugen, die auf Gerichtsprotokollen basieren, offenbaren die menschenverachtenden Verbrechen der Angeklagten. Schrade berichtet von Auspeitschungen, Prügel mit den unterschiedlichsten Waffen und Gegenständen, Aufhängen an den Armen, die hinter dem Rücken zusammengebunden wurden. Besonders grausam und zynisch: das Entfernen des Magens in mehreren Fällen, nachdem die hungrigen Gefangenen gefragt worden waren, ob sie Magenschmerzen hätten. Gelegentlich werden besonders brutale Schilderungen durch dunkle Streicherklänge zusätzlich betont.
Es geht um Schuld und Verantwortung
Dem gegenüber steht die Entlastungsrhetorik der Täter: Man habe nur Befehle befolgt. Eigentümlicherweise sagen Richter, Beisitzer und Staatsanwälte nichts; sie stellen keine Fragen, unterbrechen nicht, haken nicht nach. Schrade berichtet von selbst. Dies ist kein Gerichtsfilm, der den Versatzstücken des Genres folgen würde. Nur der Rechtsanwalt kommt am Schluss zu Wort und erhebt Vorwürfe gegen den Zeugen. War er nicht selbst ein Berufsverbrecher? Wie konnte er elf Jahre in den Lagern überleben? Zynische Fragen, die zu einer späten Pointe führen, weil Schrade sich klug zu wehren weiß.
„Der Zeuge“ erinnert von seiner Konzeption her an das Theaterstück „Die Ermittlung“ von Peter Weiss über die Auschwitzprozesse 1963 bis 1965. In elf „Gesängen“ fasst das Stück die Aussagen gegen verschiedene KZ-Bewacher thematisch zusammen. Auch in „Der Zeuge“ werden die Mechanismen, die zur systematischen Ausbeutung und Tötung von tausenden Menschen in den Konzentrationslagern führen, schonungslos und direkt thematisiert. Es geht um Schuld und Verantwortung.
Stets neu bewerten
Die Inszenierung macht es den Zuschauern nicht leicht. Das asketische Konzept, das nur sprechende Gesichter in Nahaufnahmen zeigt, keine Aktion, keine Bewegung, verlangt eine hohe Aufmerksamkeit. Die Widersprüche zwischen den Aussagen der Täter und des Zeugen zwingen dazu, den Sachverhalt stets neu zu bewerten. Kein einfacher Film, der sich mal eben so konsumieren ließe.