Wie in eine andere Sphäre entrückt, sitzt die 16-jährige Suzanne (Suzanne Lindon) in einem Pariser Café am Tisch mit ein paar Gleichaltrigen. Während die Freunde Coca-Cola trinken und in ein Gespräch vertieft sind, das mehr einem gleichförmigen Raunen ähnelt, wartet Suzanne schweigend und in sich versunken. Als der Kellner ihr eine Grenadine Diabolo bringt und sich der rubinrote Granatapfelsirup über die klare Limonade ergießt, strahlt ein Lächeln über ihr Gesicht. Träumerisch nähert sich die Kamera ihren Lippen, die genussvoll den Strohhalm umschließen, um sich der Limonade wie einem Liebestrank hinzugeben. Doch nach einem kurzen intensiven Nippen zückt sie ihr kleines blutrotes Portemonnaie und macht sich dann abrupt auf den Weg.
Die gerade einmal zwanzigjährige Suzanne Lindon überrascht in „Frühling in Paris“ mit einem dreifachen Debüt als Regisseurin, Autorin und Hauptdarstellerin einer filmischen Version des biblischen Hohelieds auf die Liebe. Im Hebräischen auch „Das schönste aller Lieder“ genannt, geht diese alttestamentarische Liebeslyrik auf die Zeit Salomos zurück und versammelt zärtliche und erotische Verse, die das Suchen und Finden ebenso wie das Sehnen und Lobpreisen zweier Liebender entfalten. Statt einer fortschreitenden Handlung stehen vielmehr das wechselhafte Zusammenspiel von Begehren und Erfüllung sowie Vereinigung und Trennung im Vordergrund. Bemerkenswert ist dabei, dass die weibliche Stimme sehr viel aktiver, stärker und fordernder auftritt als ihr Geliebter. In der bildhaften und metaphorischen Sprache steht immer wieder der Granatapfel mit seiner aphrodisierenden Symbolik im Vordergrund.
Die Farbe des Begehrens
Lindon setzt dies spielerisch und originell durch die immer wieder auftauchende Grenadine-Limonade und den Einsatz der Farbe Rot um. Ihre hochgewachsene Protagonistin in weißer Bluse und Blue Jeans, die dunklen Haare stets mit einem leuchtend roten Haarband zurückgebunden, langweilt sich in Gegenwart ihrer Klassenkameraden auf dem Schulhof und auf den Partys. Lieber verbringt sie ihre Zeit mit Romanen von Boris Vian; an der Wand ihres Zimmers hängt ein Filmplakat von Maurice Pialat. Einmal erblickt sie einen schönen, rauchenden Mann (Arnaud Valois) auf dem Nachhauseweg im Montmartre; ihre Blicke kreuzen sich, eine rubinrote Tür blitzt im Hintergrund auf. Wenig später sieht sie ihn nachts in einer Bar mit seinen Kollegen sitzen, genauso abwesend und unverbunden mit der Gesellschaft, wie sie sich selbst erlebt. In rotes Neonlicht getaucht, wird die flüchtige Begegnung zu einem ausgedehnten Moment gegenseitiger erotischer Faszination.
Von da an ist Suzanne wie elektrisiert und außer sich. Immer wieder sucht sie den Ort des ersten Zusammentreffens auf, bis sie den Unbekannten vor einem kleinen Theater wiederentdeckt. Sein kirschroter Motorroller ist defekt und so fragt sie wenig später zuhause ihren Vater nach fachmännischem Rat für eine Reparatur. Bei einer weiteren heimlichen Annäherung sieht sie den schönen Fremden im Café genüsslich ein Baguette mit Erdbeermarmelade frühstücken. Erfüllt von dem Begehren nach Nähe, bittet sie kurz darauf die Mutter, ihr ebenfalls ein Brot mit leuchtend rotem Aufstrich zu machen.
Zu den Klängen von Vivaldis „Stabat Mater“
Gemeinsam mit ihrer Schwester lebt Suzanne ein harmonisches Familienleben in der elterlichen Altbauwohnung. Fast idealtypisch sind die Zärtlichkeit und der Respekt, den die Geschwister dort erfahren. Der Vater (Frédéric Pierrot) ist für Suzanne der Ansprechpartner, wenn sie wissen möchte, was Männer wollen - und ob sich ihre Leidenschaft eher mit Röcken oder Hosen wecken lässt. Mit der Mutter verbindet Suzanne immer noch eine kindliche Innigkeit, die sich über lange Umarmungen und ausgiebiges Liebkosen auf der Wohnzimmercouch zeigt.
Voller Leichtigkeit und szenischem Einfallsreichtum verwebt Suzanne Lindon die mädchenhafte Seite ihrer Hauptfigur mit dem Einbruch von Weiblichkeit und Erotik, die sie stets in der Schwebe hält. Im schmerzhaft schönen Übergang zwischen den Freuden der Kindheit und einem Aufbruch in die fremde Körperlichkeit der Erwachsenen erlebt Suzanne eine große Liebe, die sie verwandelt, aber auch vor Konflikte und Herausforderungen stellt.
Als ihr Objekt der Begierde sie endlich anspricht und zu einem gemeinsamen Treffen im Café einlädt, stellt sich heraus, dass der junge Mann namens Raphaël immerhin zwanzig Jahre älter ist als sie. Doch er begegnet Suzanne mit Ernsthaftigkeit und Zurückhaltung, die sich auch darin äußert, dass beide stets beim „Sie“ bleiben und in wunderbarer Stilisierung ein Hand- und Halskuss profane Annäherungsformen ersetzt. In einer der schönsten Szenen des Films setzt Raphaël ihr Kopfhörer auf, um sie seine Lieblingsmusik hören zu lassen. Zu den elegischen Klängen von Vivaldis „Stabat Mater“ beginnen sich die beiden Liebenden plötzlich mit geschlossenen Augen in einem synchronen Ballett zu bewegen, während die 9. Strophe des lateinischen Gesangs verkündet: „Lass, o Mutter, Quell der Liebe, lass die Flut der heil’gen Triebe strömen in mein Herz herab!“
Poetik der Verwandlung
Bemerkenswert an der Szene ist auch, dass es kein Smartphone ist, von dem aus Raphaël die Musik abspielt, ebensowenig wie irgendjemand sonst im Film mit einem solchen Gerät oder einem Computer zu sehen ist. Suzanne Lindon hat dazu bemerkt, dass eine zentrale Motivation des Films die Suche nach einer tiefen Form der Beziehung sei, die sich in Zeiten permanenter Verfügbarkeit durch das Internet immer mehr verliere. „Frühling in Paris“ erschafft eine geradezu nostalgische Welt, die eine unbändige Sehnsucht nach physischer Begegnung und geteilten mentalen Räumen zum Ausdruck bringt. Der Regisseurin gelingt eine lyrische Ode an die Liebe, die an den frischen Wind der Nouvelle Vague erinnert und zugleich eine ganz eigene stilistische Brillanz entfaltet.
Nicht zuletzt ist „Frühling im Paris“, den Lindon bereits mit 15 Jahren zu schreiben begann, eine selten schöne und offene Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten des Frau-Werdens, dem inneren Auseinanderfallen, das junge Mädchen oft erleben, wenn geistige Reife und körperliche Entwicklung Dissonanzen auslösen, die in Verletzung und Enttäuschung enden können.
Als Tochter der beiden französischen Schauspieler Sandrine Kiberlain und Vincent Lindon bekam Suzanne Lindon trotz der Bekanntheit der Eltern die Möglichkeit, ein Leben abseits medialer Aufmerksamkeit zu führen, und sich bereits mit 15 Jahren an einer Hochschule einzuschreiben. Vielleicht braucht es für diese Selbstbestimmung, die der Film spürbar macht, eine Umgebung, in der Zugewandtheit und Freiraum so viel Rückhalt bieten, dass weder Eltern noch ein Partner dem Mädchen eine Entscheidung aufdrängen. Mit dem Bezug auf das Hohelied und die starke Rolle der weiblichen Stimme darin zeigt Lindon zudem, dass Hingabe und Stärke kein Widerspruch sind.