Das „Abtauchen“, ein zweiminütiges kollektives Dösen auf der Schulbank, ist eines der Rituale, die im Klassenverband des Pädagogen Dieter Bachmann fest verankert sind. Außerdem die „Schweigeminute“, eine kurze Auszeit von Lärm und Turbulenz, sowie das „Schlaglicht“, eine knappe persönliche Bilanz des Schultags kurz vor Unterrichtsschluss.
Ein anderes gemeinschaftsstiftendes Ritual nimmt in der täglichen Unterrichtspraxis annähernd so viel Raum ein wie der Deutschaufsatz, die Lesestunde und das Bruchrechnen: die Musik und das Musikmachen. Gitarre, Schlagzeug, Bass und Schelle gehören zum Inventar des Klassenzimmers so selbstverständlich dazu wie Tafel und Schulbank. Beim Jammen finden Hasan, Jamie, Stefi, Ayman und die anderen über alle kulturellen Unterschiede und Sprachbarrieren hinweg in einer gemeinsamen Sprache zusammen. Herr Bachmann, in dem neben dem Lehrer, Systemkritiker, Sozialarbeiter und Bildhauer auch ein Folkrocker steckt, nimmt in diesem Organismus mal die Rolle des Bandleaders, mal die des Background-Musikers ein. Die Musik – von „Jolene“ über „Knockin’ on Heaven’s Door“ bis zu einem Song der Söhne Mannheims – leistet viele Dienste: Sie ist Spaß, Ablenkung, Konzentration, Pause, eine Übung im Zusammenspiel. In seinen selbstgeschriebenen Liedern verpackt Herr Bachmann aber auch gerne Teile des Unterrichtsstoffs oder Anlässe für Diskussionen.
Mit Strickmütze und Kapuzenpulli
Ein ganzes Schulhalbjahr hat die Filmemacherin Maria Speth zusammen mit dem Kameramann Reinhold Vorschneider und dem Tonmeister Oliver Göbel den Lehrer und seine Klasse an der Georg-Büchner-Schule im hessischen Stadtallendorf begleitet. Für die 12- bis 14-jährigen Schülerinnen und Schüler der Klasse 6b werden in dieser Zeit die ersten Weichen für ihr späteres Berufsleben gestellt; am Ende des Schuljahres erfolgt die Teilung in die Zweige Hauptschule, Realschule und Gymnasium. Einige in der Klasse gehören zur dritten Einwanderergeneration, andere sind erst vor kurzem nach Deutschland zugewandert und müssen sich in der fremden Sprache mühsam zurechtfinden. Dass sich ihre individuellen Entwicklungen in einem Leistungssystem nicht abbilden lassen, macht Herrn Bachmann, einem kurz vor der Pension stehenden Mann mit Strickmütze und Kapuzenpulli, sichtbar zu schaffen. „Das seid ihr nicht wirklich“, sagt er mit Blick auf die Schlusszeugnisse.
Die kulturelle Zusammensetzung der Klasse ist nichts Außergewöhnliches, sie spiegelt schlicht die Bevölkerungsstruktur der Stadt wider. Für das ehemals Allendorf genannte kleine Fachwerkdorf 18 Kilometer östlich von Marburg setzte der entscheidende demografische Wandel Anfang der 1960er-Jahre ein. Wachsende Industriebetriebe wie Ferrero und die Eisengießerei Fritz Winter warben Gastarbeiter an, zunächst aus Italien und Griechenland, dann aus der Türkei. Die Industrieanlagen, die von den niedergelassenen Fabriken genutzt wurden, stammten noch aus dem Zweiten Weltkrieg. Während des Nationalsozialismus war hier die größte Sprengstoffproduktion Europas ansässig; als Arbeitskräfte wurden Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene aus den besetzten Gebieten eingesetzt, außerdem KZ-Häftlinge des Außenlagers Münchmühle. Speth nimmt sich Zeit, um die historischen und gesellschaftlichen Bögen zu spannen und eine aus verschiedenen Herkunftsländern zusammengesetzte Schulklasse nicht als Ausnahme, sondern als Kontinuität in der wechselvollen Geschichte eines Industriestandortes zu erzählen.
Den individuellen Menschen sehen
Seine 217 Minuten braucht „Herr Bachmann und seine Klasse“ aber vor allem, um Stefi, Hasan, Cengizhan, Tim, Ilknur, Ferhan, Rabia, Anastasia, Ayman, Jamie und Mattia nicht nur als Figuren in einem ungewöhnlichen Pädagogikmodell zu begreifen, sondern als Menschen kennenzulernen. Herr Bachmanns Anspruch, den individuellen Menschen in der Schülerin und dem Schüler zu sehen, ist auch der Anspruch des Films, der mehr ist als ein Blick auf Schule, integrative Pädagogik und die Realitäten des Einwanderungslands Deutschland. Schließlich wird hier ein Gesellschaftsmodell vorgelebt, das auch in anderen Bereichen des Lebens wünschenswert wäre.
Die Bilder von Reinhold Vorschneider sind aufmerksam und offen, sie haben viel Raum und erfassen den sozialen Verband ebenso wie die scheinbar nebensächliche Handlung am Rand des Geschehens. So nimmt man Anteil daran, wenn Hasan immer mehr in die Musik hineinwächst, Rabia zunehmend Selbstvertrauen findet und Stefi in der deutschen Sprache genug Worte findet, um auszusprechen, was sie sagen will. Herr Bachmann schafft ihnen allen einen Raum, in dem sie sich sicher und ernst genommen fühlen, in dem viel diskutiert und manchmal auch hartnäckig nachgefragt wird – etwa wenn es um Geschlechterbilder, Sexualität oder auch um Solidarität innerhalb der Gemeinschaft geht. „Versuch mal weiter zu erklären“, lautet ein typischer Herr-Bachmann-Satz.