Drama | Deutschland 2021 | 100 Minuten

Regie: Mia Maariel Meyer

Ein Fliesenleger steigt zum Bauleiter auf und zieht mit seiner Frau und seiner 13-jährigen Tochter in ein renovierungsbedürftiges Haus am Stadtrand. Die Jugendliche findet eine neue Freundin, die sie zum Trinken, Rauchen und zum Diebstahl anstiftet. Doch die Eltern haben kein Ohr für sie; die Mutter ist schwanger, der Vater wird im Job durch einen kalten Pragmatiker ersetzt. Der wachsende Druck zermürbt die Familie, treibt ihre Mitglieder in die Vereinzelung und löst eine Spirale der Gewalt aus. Das von den Filmen des englischen Regisseurs Ken Loach inspirierte Drama entwirft das eindrückliche Porträt von Menschen in einer Gesellschaft, in der jeder um seine Existenz ringt. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
kurhaus prod./SWR/arte
Regie
Mia Maariel Meyer
Buch
Hanno Koffler · Mia Maariel Meyer
Kamera
Falko Lachmund
Schnitt
Gesa Jäger
Darsteller
Hanno Koffler (Rainer) · Anna Blomeier (Nadine) · Dora Zygouri (Doreen) · Robert Stadlober (Klose) · Roland Bonjour (Toni)
Länge
100 Minuten
Kinostart
28.04.2022
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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Drama um eine dreiköpfige Familie, die vom Aufstieg träumt und darüber nicht nur den Kontakt untereinander verliert, sondern auch an der Härte und dem Druck der Gesellschaft zerschellt.

Diskussion

Selten hat ein jüngerer deutscher Film die neoliberale Leistungsgesellschaft und den Druck, der auf Familien der unteren Mittelschicht lastet, psychisch und physisch so erfahrbar gemacht wie „Die Saat“ von Mia Maariel Meyer. Für ihren zweiten langen Spielfilm orientierte sich die 1981 geborene Regisseurin sichtlich an den Sozialdramen des Briten Ken Loach, geht aber in den besten Momenten noch über ihn hinaus, indem sie die von Loach favorisierte Ebene des Alltagsrealismus verlässt und die Tiefschläge, die ihre Protagonisten erfahren, zu filmästhetisch eindrucksvollen Inseln im Strom der Ereignisse verdichtet.

Die Kamera von Falko Lachmund rückt dann dicht an einzelne Körperpartien heran, Nacken oder Hände; der mühsam gebändigte Zorn, auch die ohnmächtige Wut werden durch das Vibrieren der Haut erfahrbar gemacht. Jede Pore ist ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Auf der Tonebene (Christoph Schilling) werden dann die natürlichen Umgebungsgeräusche zurückgenommen; zu hören ist ein dumpfes Glucksen, ein akustisches Untergangsmotiv. Das ist sehr genau konzipiert und überträgt sich wie ein Sog auf die Zuschauenden.

Auf den Leib geschrieben

Hanno Koffler spielt die Hauptrolle und hat gemeinsam mit Mia Maariel Meyer auch das Drehbuch geschrieben. Eine Abfolge von Konfrontationen, die in eine existentielle Krise münden: Dauernde Demütigungen werden zur Saat der Gewalt. Die dramaturgische Konstruktion, der Zusammenprall von Gut und Böse, mag im Einzelnen etwas einschichtig erscheinen; erzählerisch ist diese Konstellation aber ungeheuer wirksam. Koffler hat sich die Figur des Fliesenlegers Rainer, der vom Juniorchef seiner Baufirma (Robert Stadlober) zum ersten Mal mit dem Job eines Bauleiters betraut wurde, gleichsam auf den Leib geschrieben; und er setzt seine ganze Körperlichkeit dafür ein.

In diesem Job geht es um Musterwohnungen, an denen die Zukunft der Firma hängt. Rainer ist ein Arbeitstier, kräftig, freundlich zu seinen Mitarbeitern; er packt überall mit an, ist sich für keine Dreckarbeit zu schade. Aber der Chef braucht keinen gütigen Menschen, sondern einen Einpeitscher. So wird Rainer während der Probezeit durch einen kalten Pragmatiker (Andreas Döhler) ersetzt. Beide haben unterschiedliche Vorstellungen von Teamarbeit: Der eine ist ein Kumpel, der andere hält Abstand und achtet ausschließlich auf Zeit und Geld. Als sich Rainer mit gedemütigten Kollegen solidarisiert, stellt sich auch der Juniorchef nicht mehr schützend vor ihn.

Schweigen aus Scham und Hilflosigkeit

Die zweite Hauptfigur ist Rainers Tochter Doreen (Dora Zygouri). Ein unglücklicher Teenager, der aus seiner vertrauten Umgebung in der Stadt herausgerissen wurde und mit den Eltern in ein marodes Häuschen im Umland ziehen musste. Durch die Freundschaft mit einem gleichaltrigen Nachbarsmädchen gerät Doreen überdies in zusätzliche Schwierigkeiten. Die Tochter der neureichen Familie verführt Doreen nicht nur zum Rauchen und Trinken, sondern auch zum Klauen; und sie bedroht sie körperlich, nachdem Doreen sich von ihr wieder zu lösen versucht.

Die Erlebnisse, Erfahrungen und Enttäuschungen von Vater und Tochter werden parallel erzählt, beide Figuren gehen durchs jeweils eigene Jammertal und errichten um sich Schutzbarrikaden des Schweigens. Rainers berufliche Degradierung, das fehlende Geld, die Verweigerung von Kommunikation aus Scham und Hilflosigkeit und Doreens Krise stürzen die Familie, zu der auch noch die schwangere Mutter gehört, in einen Zustand tiefster Verzweiflung.

Das mündet in einen Akt roher Gewalt. Weil der Film dramaturgisch so gebaut ist, dass man ohne Zögern Partei für Rainer ergreift, wird bei dessen Ausbruch allerdings ein erzählerischer Moment eingebaut, mit dem die Gewalt definitiv als falsche Lösung gewertet wird. Hier setzen Koffler und Meyer ein moralisierendes Achtungszeichen, das im Gesamtgefüge des Films nicht nötig gewesen wäre.

Inszenierung und Darstellern gelingen eine Vielzahl überzeugend authentischer Szenen: Die Abläufe auf dem Bau, aber die Konflikte, in die die Arbeiter durch Leistungsdruck und unmenschliche Entscheidungen geraten, werden sehr genau beschrieben. Die Auseinandersetzungen der Mädchen sind überdies sozial fundiert; ebenso wie die Abfuhr, die Rainer durch den arroganten Nachbarn mit seiner von hohen Zäunen umgebenen Villa erfährt. „Die Saat“ ist ein beachtlicher Film von einer Regisseurin, deren Namen man sich merken muss.

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