Drama | Schweiz 2020 | 110 Minuten

Regie: Christian Johannes Koch

Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände kommt die Affäre einer verheirateten Lehrerin mit dem Vater einer ihrer Schülerinnen ans Licht, was fatale Folgen für alle nach sich zieht. Das in einer winterlich-düsteren Innerschweiz spielende Gesellschaftsdrama beobachtet sehr genau das Verhalten der Figuren und verbindet es durch eine elliptische Erzählweise recht subtil mit drängenden Gegenwartsthemen. Ein wohltuend ungeschönter, mitunter fast kammerspielartiger Film, der als im Privaten verortete moralische Erzählung sublim brennende gesellschaftspolitische Fragen aufwirft. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
SPAGAT
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
CognitoFilms/SRF Schweizer Radio und Fernsehen
Regie
Christian Johannes Koch
Buch
Christian Johannes Koch · Josa Sesink
Kamera
Timon Schäppi
Musik
Peter Scherer
Schnitt
Jamin Benazzouz
Darsteller
Rachel Braunschweig (Marina) · Alexey Serebryakov (Artem) · Masha Demiri (Ulyana) · Michael Neuenschwander (Jörg) · Nellie Hächler (Selma)
Länge
110 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Subtiles Beziehungs- und Gesellschaftsdrama um eine Schweizer Lehrerin, die mit dem Vater einer ihrer Schülerinnen ein Verhältnis hat.

Diskussion

Marina ist Mitte 40 und von Beruf Lehrerin. Sie lebt mit ihrem Mann Jörg und der halbwüchsigen Tochter Selma in einem etwas abgelegenen Bauernhaus im Schweizer Mittelland. Und: Sie unterhält eine Liebschaft. Heimlich. Nicht nur aus Rücksicht auf ihre Familie, sondern auch, weil es nicht sonderlich gern gesehen wird, wenn sich Lehrpersonen mit Eltern von Schülern einlassen.

Außerdem hält sich ihr Liebhaber illegal in der Schweiz auf. Artem ist mit seiner Tochter Ulyana vor einigen Jahren aus der Ukraine in die Schweiz gekommen; die beiden haben keine Aufenthaltsbewilligung. Sie leben wie rund 300 000 andere als sogenannte „Sans-Papiers“. Mit der ungewissen Situation haben sie sich einigermaßen arrangiert: Artem arbeitet schwarz auf dem Bau, Ulyana besucht die öffentliche Schule. Die Wohnung, in der sie hausen, wird von Artems Arbeitgeber zur Verfügung gestellt.

Gemeinsame Wohlfühlzeit

Marinas Treffen mit Artem sind meist kurz und genau geplant. Man trifft sich in seiner Wohnung, während Ulyana trainiert. Die 15-Jährige ist eine begabte Kunstturnerin. Sie möchte hoch hinaus und an den nächsten Regionalmeisterschaften teilnehmen. Gespielt wird sie von Masha Demiri, die nicht nur fließend Schweizerdeutsch und Russisch spricht, sondern als aktive Kunstturnerin auch den sinnbildlichen Titel-Spagat perfekt beherrscht.

Wie Marina und Artem zusammengefunden haben, wird nie explizit erklärt, auch nicht, was die beiden außer Sex verbindet. Dem Spielfilmdebüt von Christian Johannes Koch ist das Ungefähre einer Liaison dangereuse bereits eingeschrieben. Zum Auftakt gibt es einen Liebesakt, der weder als sonderlich aufregend noch explizit erotisch gezeigt wird; es handelt sich vielmehr um eine unaufgeregt inszenierte Wohlfühlzeit, die zwei sich zugetane Erwachsene gemeinsam verbringen.

Am Ende bricht Marina eilig auf. Sie muss los, zu einer schulischen Abendveranstaltung. Auf dem Parkplatz vor dem Schulhaus wechselt sie im Auto ihre Kleider und kontrolliert das Make-Up. Das Leben im Mittelstand verläuft in (gefühls-)kontrollierten Bahnen.

Ein Kopfhörer zerstört die Heimlichkeit

Die exakte Beobachtung menschlichen Verhaltens und deren Inszenierung in Bildern, welche den Personen und dem Geschehen immer wieder viel Raum geben, erweisen sich als Stärken des Films.

Ihrem Ehemann Jörg gegenüber deklariert Marina die heimlichen Schäferstündchen als Lauftraining mit Freunden. Selmas kecke Bemerkungen über die Kleider im Auto kontert sie mit einer flüchtigen Ausrede. Vorerst ist keiner misstrauisch in diesem Film. Doch dann vermisst eine Schülerin von Marinas Klasse ihre neuen Kopfhörer und Ulyana wird des Diebstahls verdächtigt. Am gleichen Tag führt die Fremdenpolizei auf Artems Baustelle eine Kontrolle durch. Darauf ist er vorbereitet; unauffällig verschwindet Artem von der Baustelle. Doch in der Hektik verletzt er sich am Arm.

Was zum Vorschein kommt

Er müsse seine Verletzung einem Arzt zeigen, meint Marina beim nächsten Treffen. In einem unbeobachteten Moment steckt sie die in Ulyanas Zimmer entdeckten Kopfhörer in ihre Tasche. Am nächsten Tag gibt sie die ihrer Besitzerin mit dem lapidaren Kommentar, dass sie wieder zum Vorschein gekommen seien. Dass Ulyana nicht in der Schule auftaucht, beunruhigt Marina zunächst nicht. Doch als auch Artem sich tagelang nicht meldet, beginnt sie sich zu sorgen. Dann entdeckt sie per Zufall, dass Artem polizeilich gesucht wird.

Von da an nimmt das Drama Fahrt auf. Denn nach und nach findet Marina heraus, dass sie an Ulyanas und Artems Untertauchen mit Schuld trägt. Denn weil Ulyana die Kopfhörer zurückgeben wollte, diese aber nicht mehr fand, ging sie in ein Geschäft und wurde beim Diebstahl ertappt. Artem musste seine Tochter abholen. Als man seine Personalien überprüfte, ergriffen die beiden die Flucht.

Es sind viele große und komplexe, aber auch private, moralische und natürlich auch gesellschaftspolitische Themen, die Koch in „Spagat“ subtil miteinander verflicht. Er tut dies in Form eines wohltuend ungeschönten Gesellschaftsdramas, in dem das Zusammentreffen von Menschen aus zwei unterschiedlichen Gesellschaften und Milieus alle bisherigen Gewissheiten infrage stellt. Obwohl sich fast alle immer um das Beste bemühen und es zwischendurch auch stille Momente der Hoffnung gibt, wird in diesem Film alles immer brüchiger und schwieriger.

Christian Johannes Koch ist in Luzern geboren und in einem Dorf in der Umgebung aufgewachsen. Er hat ursprünglich Fotografie studiert, was man dem ausnehmend kadrierten Film anmerkt, und lebte von 2007 bis 2018 mehrheitlich in Deutschland.

Ein Spiegel der Gesellschaft

„Spagat“ verortet sich in einer oft winterlich-düsteren Landschaft zwischen Bauernhöfen, Schulhaus, Einkaufszentrum, Wohnblocksiedlung und Kleinstadt irgendwo in der Innerschweiz, wobei sich im kleinen Kosmos der Schule die ganze gesellschaftliche Situation in der Schweiz spiegelt.

„Spagat“ ist in den zentralen Rollen gut besetzt. Vor allem die Frauen überzeugen. Rachel Braunschweig spielt die Gattin, Mutter und Lehrerin, die durch ihr unmoralisches Verhalten und unüberlegtes Handeln sich und ihre Umgebung immer mehr in die Bredouille bringt, mit brodelnder Innerlichkeit. Masha Demiri punktet mit erfrischender Natürlichkeit, die wenig ältere Nellie Hächler spielt Selma kraftvoll-sensibel als trotzig aufbegehrende Teenagerin. Während Aleksey Serebryakov als Artem durchaus mithalten kann, fällt Michael Neuenschwander etwas ab, was aber weniger an seinem Spiel liegt als an seiner undankbaren Rolle des gehörnten Ehemannes. Obwohl Jörg fast jedes Mal da ist, wenn Marina nach Hause kommt, und Familienleben und Ehe vorerst intakt zu sein scheinen, erfährt man von ihm kaum mehr, als dass er über weite Strecken erstaunlich duldsam gute Miene zum (bösen) Spiel seiner Frau macht. Und dies selbst dann noch, als Marina die Tochter seines Nebenbuhlers in die Familie aufnimmt.

„Spagat“ ist intensiv und berührend. Ein phasenweise kammerspielartig-intimes Drama, das als im Privaten verortete moralische Erzählung sublim brennende gesellschaftspolitische Fragen aufwirft.

Kommentar verfassen

Kommentieren