Love Me Tender

Drama | Schweiz 2019 | 83 Minuten

Regie: Klaudia Reynicke

Eine junge Frau, die aufgrund von Angstzuständen das Haus nicht verlässt, wird nach dem Tod ihrer Mutter und der Flucht des Vaters ihrem Schicksal überlassen. Unfähig, für sich selbst zu sorgen, verharrt sie in den elterlichen Räumen und beginnt, unterdrückte erotische Sehnsüchte auszuleben. Als die Außenwelt immer mehr Anforderungen an sie stellt, wagt sie sich schließlich in einem Ganzkörperanzug ins Unbekannte hinaus. Ein sinnlicher wie humorvoller Film über die primär körperliche Suche der Protagonistin nach Selbstbezug und Individuation. Mit höchst eigenständigen Bildern für Ängste wie Fantasien erkundet der sensible Film die Eigenrealität der ausdrucksstarken weiblichen Hauptfigur. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LOVE ME TENDER
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Amka Films Prod./RSI
Regie
Klaudia Reynicke
Buch
Klaudia Reynicke
Kamera
Diego Romero
Musik
Zeno Gabaglio · Klaudia Reynicke
Schnitt
Paola Freddi
Darsteller
Barbara Giordano (Seconda)
Länge
83 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Drama um eine junge Frau, die sich vor der Außenwelt ängstigt und deshalb ihre Wohnung nicht verlassen kann.

Diskussion

Eine junge Frau und ein kleines Mädchen laufen inmitten einer weiten Landschaft aufeinander zu. Doch statt sich in die Arme zu fallen, kollidieren ihre Körper in einem unvermittelten Aufprall, so als ob sie die rührselig beschworene Zärtlichkeit des titelgebenden Elvis-Songs ironisch zersprengen wollten. Kurz darauf sieht man Seconda (Barbara Giordano) in einem zügellosen Tanz mit sich selbst, die Arme brutal gegen den eigenen Körper schlagend, bis sie ein Regal in ihrem Zimmer mit lautem Getöse zu Fall bringt.

Von Beginn an konfrontiert die peruanisch-schweizerische Regisseurin Klaudia Reynicke die Zuschauer mit der ausdrucksstarken Körperlichkeit ihrer Protagonistin, über die sie deren konflikthafte psychische Realität erkundet. Im einen Augenblick räkelt Seconda sich mit ihrem schönen, wuchernden Haar auf dem Bett, in einer unheimlichen Mischung aus Infantilität und ziellosem Begehren; im nächsten Moment stürmt sie voller Aggression durch die trostlosen Wohnräume des Elternhauses, die in ihrer bräunlichen Schäbigkeit eine erdrückende Enge ausstrahlen. Die gealterten Körper von Vater und Mutter kommen der Kamera unangenehm nah und bleiben Secondas Provokationen gegenüber dennoch unzugänglich und verschlossen. Ihre müden Versuche, die Tochter zu einem gemeinsamen Spaziergang zu überreden, enden mit zugeknallten Türen. Eine Medikamentenschachtel aus der Nachttischkommode, die Seconda wutentbrannt aus dem Fenster wirft, wird vom Vater wieder eingesammelt.

Ohne Aufsicht sich selbst überlassen

Es greift zu kurz, „Love me tender“ als Porträt einer psychischen Erkrankung zu fassen, auch wenn die Symptome der Protagonistin sich klinisch als „Agoraphobie“ einordnen ließen. Reynicke interessiert sich vielmehr für die Eigenrealität von Secondas Wahrnehmungen, die sie daran hindern, das Haus zu verlassen oder für sich selbst zu sorgen. In ebenso hochkomischen wie originellen Szenen geht die Inszenierung dem nach.

Die Lage verschärft sich, als Secondas Mutter eines Abends in sich zusammensinkt und stirbt. Kurz darauf sucht der Vater das Weite und hinterlässt seiner Tochter nur eine Abschiedsnotiz am Kühlschrank. Seconda wirkt neben der weißen Perserkatze und den Fischen im Aquarium wie ein weiteres Haustier, das nun ohne Aufsicht und Fürsorge sich selbst überlassen bleibt. Ein Schuldeneintreiber hinterlässt immer penetrantere Nachrichten auf dem Anrufbeantworter und drängt Seconda zum Handeln. Statt maßvoller Besinnung lösen die Drohungen bei der jungen Frau jedoch erotische Fantasien aus, in die sie sich auf dem Hometrainer oder dem elterlichen Wasserbett fallen lässt.

Seconda wirkt wie ein prähistorischer Mensch, der nicht mit dem Sublimierungsgebot der Zivilisation in Berührung gekommen ist und der seiner Triebhaftigkeit ohne Scham ihren Lauf lässt. Wenn die Tomatenbüchsen zur Neige gehen, schlingt sie mit bloßen Händen das Katzenfutter in sich hinein oder schüttet Zucker ins Wasserglas. Sie trägt mit größter Selbstverständlichkeit kaum Kleidung, dafür aber umso sichtbarer ihre Körperbehaarung. Reynicke zeigt mit viel Sinnlichkeit und Humor die Schönheit dieses unfreiwilligen Naturzustands, ohne ihn zu idealisieren.

Ein kleines Mädchen blickt zurück

Mehrere Suizidversuche misslingen auf komische Weise durch Secondas instinktiven Lebenserhaltungstrieb. Ihr Leiden an der Situation wird deutlich, wenn sie vom Fenster aus neidvoll auf den Alltag der Passanten blickt und diese mit Gegenständen bewirft. Ein Auftakt zur Veränderung gelingt eines Tages, als ein kleines Mädchen zurückwirft und Seconda als Verrückte verspottet. Umhüllt von einem hautengen Ganzkörperanzug nimmt sie die Herausforderung an, sich in die bedrohliche Außenwelt hineinzuwagen.

Obgleich der Großteil des Films im Innenraum spielt und sich ganz auf die Eigentümlichkeit der Protagonistin einlässt, entwickelt „Love me tender“ immer wieder überraschende Szenen, die sich zu einem eigenen Mikrokosmos entfalten. Reynicke findet eigenständige Bilder und Situationen für die Ängste und Fantasien ihrer Hauptfigur, anstatt ein Trauerspiel der psychischen Erkrankung aufzuführen oder Identitätsangebote zu machen. Oft verbleiben die Zuschauer in derselben Verunsicherung über den Status der Realität, in der sich auch Seconda befindet. Daraus entwickeln sich aber viel tiefere Einsichten in seelische Vorgänge der jungen Frau, als es herkömmliche Narrative der Krankheit ermöglichen könnten.

Der hysterische Körper als Ausdrucksmedium

So wird auch das kindliche Trauma Secondas, als Zweitgeborene bloßer Ersatz für eine verstorbene Schwester zu sein, im Verlauf des Films nicht als psychologisierende Auflösung der Handlung eingebracht, sondern eher als beiläufiger Startpunkt einer beginnenden Selbstreflexion, mit der noch gar nichts gewonnen ist. Die Transformation von Erfahrungen geschieht langsam und vor allem durch den Körper, nicht als einmalige Erkenntnis, das zeigt „Love me tender“ eindringlich durch seine filmische Strategie.

Gleichzeitig gelingt der Inszenierung ein explizit weiblicher Blick auf die Suche nach einem Selbstbezug, der den hysterischen Körper ernst nimmt und zur eigenen Erzählweise macht. Die programmatische Exaltiertheit der meisten Szenen dient nicht nur dem Slapstick, sondern stellt die körperliche Suche der jungen Frau nach einer Beziehung zu sich selbst in den Vordergrund, ebenso wie das Ausleben ihrer Sexualität, das davon nicht zu trennen ist. Ohne eine Ablösung vom Elternhaus, die ihr lange verwehrt geblieben war, kann dies nicht gelingen.

Secondas hypererregbarer Körper, auf dem sich Ängste und Begehren, aber auch Aggressionen sichtbar entladen, kollidiert im Laufe des Films nicht nur mit hilflosen und eingeschüchterten Männern, sondern schließlich auch mit einem kindlichen Doppelgänger, der ihrer Individuation schon zu lange im Weg gestanden hat.

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