Tatort Stadtautobahn: Ein junger Mann am Steuer drückt das Gaspedal tief durch und seine tief umnachteten Augen feste zu. Im allerletzten Moment reißt er sie auf – und das Lenkrad herum. Dem Auffahrunfall direkt vor ihm kann Scott gerade noch ausweichen. Die Kollateralschäden der touchierten Fahrzeuge um ihn herum wird er nicht mehr verhindern. Gäbe es ein Sinnbild für den Status quo im Leben dieses „Staten Island-Königs“, es wäre solch ein mutwilliger Kollisionskurs: Immer wieder abgewendet und dennoch andere in Mitleidenschaft ziehend.
Dabei fühlt sich Scott mit seinen 24 Jahren selbst wie ein Kollateralschaden – verursacht durch das Heldentum seines Vaters: Vor 17 Jahren kam der leidenschaftliche Feuerwehrmann beim Versuch, anderen Menschen das Leben zu retten, zu Tode. Zurück blieben Scott, seine jüngere Schwester und Mutter Margie. Aufopferungs- und verständnisvoll hat die Krankenschwester vor lauter (Für-)Sorge um die Kinder sich selbst längst vergessen. Egal wie heftig sich ihr erwachsener Sohn Scott als immer noch zu Hause lebendes Nesthäkchen über den vermeintlichen Egoismus des sein Leben riskierenden Vaters echauffiert. Egal wie abgebrüht er sich über den Tod des Vaters beim bekifften Splatterfilm-Abend mit Freunden lustig macht. Unter all den über seinen ganzen Körper verteilten Tattoos und den coolen Sprüchen ist Scotts Inneres von tiefer Verletzung gezeichnet.
Der neue Partner der Mutter wirft Scott aus der Bahn
Scott ist einer der typischen Anti-Helden des US-Komödien-Spezialisten Judd Apatow, die sich als „Slacker“ dem Erwachsenwerden zu entziehen versuchen und sich plötzlich mit dem Ernst des Lebens konfrontiert sehen. In reichlich späten Coming-of-Age-Geschichten wirft Apatow seine Figuren ins kalte Wasser, wo sie schwimmen oder untergehen. In „The King of Staten Island“ ist es der neue Partner der Mutter, der Scott aus seiner Kollisionsbahn wirft – wieder ein Feuerwehrmann und zu allem Überfluss noch der Vater des kleinen Jungen, dem Scott kurz zuvor einen dicken Strich auf den Oberarm gestochen hat. Kleine Kinder im Beisein des halb entsetzten, halb begeisterten Freundeskreises zu tätowieren, hätte man auch Seth Rogen in „Beim ersten Mal“ oder Adam Sandler in „Wie das Leben so spielt“ zugetraut. Was sich bei Apatows eigenen Regiearbeiten (im Gegensatz zu seinen Koproduktionen) jedoch zunehmend einschleicht, ist ein ins Existenzielle gehender, tragischer Unterton.
Das liegt auch daran, dass Scott von Darsteller Pete Davidson nicht nur stark gespielt wird. Der zur „Saturday Night Live“-Besetzung zählende Stand-up-Comedian verfasste mit Apatow auch das Drehbuch zur eigenen Geschichte: Davidsons Vater kam während des 9/11-Anschlags beim Einsatz als Feuerwehrmann ums Leben. Scotts Erlebnisse im abgehangenen NY-Stadtbezirk Staten Island sind die nachgespielte, bestimmt auch nachgelebte Fiktionalisierung von Davidsons eigenem (Gefühls-)Leben. Und das verhilft „The King of Staten Island“ zu wesentlich mehr emotionalen Nuancen und soziopolitischen Konnotationen, als man sie von Apatow-Komödien gewohnt ist.
Den hohlen Versprechungen der US-Gesellschaft auf den Zahn gefühlt
Bislang ist Judd Apatow zumindest noch kein Stoff in die Finger gekommen, der derart den hohlen Versprechungen der US-Gesellschaft auf den Zahn gefühlt hat, in die sich das Subjekt des Coming-of-Age-Prozesses schließlich fügen soll. Durch Petes Augen eröffnet sich das Leben einer sich gerade so über Wasser haltenden, alleinstehenden Mittelschichts-Mutter, die die aufgebauschte High-School-Feier der Tochter als das Highlight feiert, als das es von Scott verachtet wird – irgendwo zwischen Arroganz und selbst verschuldetem Ausschluss. Dabei hat Scott selber nicht einmal einen High-School-Abschluss. Nicht weil er dumm wäre, sondern weil er bis auf den Traum eines Tattoo-Restaurants jegliche Perspektive auf so etwas wie eine Zukunft verloren hat. Ganz anders als On-Off-Freundin Kelsey, die immer etwas zu stark geschminkt, aber gewitzt die „Insel der Versager“ aus der Stadtverwaltung heraus wieder zu einem hoffnungsvollen Ort machen will.
In seiner Schwarzes-Schaf-Attitüde ist es Scott, der dieser ihre Misere mit schalen Vergnügungen übertünchenden Gesellschaft den Spiegel vorhält. In logischer Konsequenz füllt er sein Dasein mit Depression und Nichtstun aus. Bis er die Sinnhaftigkeit in der Hilfe gegenüber anderen entdeckt. Eben dort, wo Kelsey schon längst angekommen ist: King and Queen of Staten Island. Das riecht nach etwas lauer Happy-End-Wendung, funktioniert emotional und erzählerisch aber in einer zuvor deskriptiven, etwas überlang angelegten Erzählung. Scott wird zu neuem (Lebens-)Sinn finden im Herzen eines schwer traumatisierten, in sich zerrissenen Landes, das selbst mit seiner Rolle und Verantwortung in dieser Welt hadert. Und das berührt.