Der Tortenwurf sitzt: In Zeitlupe klatscht die Sahne mitten ins Gesicht des jungen Otis. Ein Seilzug lässt ihn in die Höhe schnellen, und so trudelt er mit Armen und Beinen wild rudernd in den Studiohimmel. Perfekt getimt ist dieser Gag, perfekt ist Otis’ ungläubiges Gesicht im Moment des Aufpralls. Otis ist 12 Jahre alt und schon ein alter Hase im Showgeschäft. Er ist ein Kinderdarsteller und der Star in einer Sitcom. Seine Jugend verbringt er zwischen Filmsets und einem heruntergekommenen Motel. Dort lebt er mit seinem Vater James, einem Kriegsveteranen, verurteilten Sexualstraftäter, trockenen Alkoholiker und gescheiterten Rodeo-Clown.
Der hohe Preis einer Kinderstar-Karriere
Otis, das ist das Alter Ego des US-amerikanischen Schauspielers Shia LaBeouf, der Anfang der 2000er-Jahre in der Serie „Eben ein Stevens“ zum Star wurde und 2007 mit „Transformers“ seinen ersten Blockbuster drehte. Es folgten diverse öffentliche Ausraster, Alkohol am Steuer und nach mehreren Verhaftungen eine gerichtlich angeordnete Therapie. Angesichts dieses Backgrounds klingt es mehr als vermessen, dass LaBeouf in der Entzugsklinik aus seiner Jugend nicht nur ein Drehbuch gemacht hat, sondern in „Honey Boy“ auch noch James spielt – er schlüpft quasi in die Rolle seines eigenen Vaters. Das Wundersame daran ist: Es funktioniert! Das Ergebnis ist einer der entwaffnendsten und ergreifendsten Filme seit langem.
Das liegt unter anderem daran, dass LaBeouf die Umsetzung an die israelisch-amerikanische Regisseurin Alma Har’el abgegeben hat. Die Dokumentarfilmerin machte 2011 mit „Bombay Beach“ auf sich aufmerksam, dem poetischen Porträt einer Community am Saltonsee in der Colorado-Wüste in Kalifornien, der als Sinnbild des gescheiterten „American Dream“ gilt. Genau dieser steht auch in „Honey Boy“ zur Disposition, denn der Film zeigt, unter welchen Bedingungen und mit welchem Kraftaufwand dieser Traum aufrechterhalten wird.
Psychogramm einer verworrenen Kindheit
Har’els filmischer Zugang ist assoziativ-affektiv. Als Außenstehende bringt sie gleichzeitig die notwendige Distanz mit, um die emotionalen Ebenen zusammenzuhalten, zu strukturieren und jenseits eines Betroffenheitsgestus erlebbar zu machen. Diese Gratwanderung gelingt ihr beinahe spielerisch und lässt den Zuschauer gleichzeitig in Otis’ Welt eintauchen und das System hinterfragen, in dem er gefangen ist.
Har’el verwebt in „Honey Boy“ drei Erzählebenen miteinander. Otis’ Kindheit als Zwölfjähriger und sein Klinikaufenthalt mit Anfang Zwanzig verschwimmen als Erinnerungen und Albträume mit Filmszenen, in denen er als Kinderdarsteller auftritt. Seine emotionale Verwirrung folgt keiner geradlinigen Entwicklung, sondern schlägt immer wieder in einen schwierigen Prozess um. Das Bewusstwerden der Tragweite, die diese Verwicklung mit sich bringt, entfaltet sich vor den Augen des Zuschauers. Die Parallelen zu Shia LaBeoufs Leben bleiben immer sichtbar, doch macht Har’el bewusst keine Biografie aus dem Film, sondern ein eigenständiges Psychogramm dieser verworrenen Kindheit.
Eine höchst komplizierte Vater-Sohn-Beziehung
In klugen Parallelführungen zeigt sie, wie Orte und Umgebungen zu Erinnerungsträgern werden können, die erst mühsam wieder umgedeutet werden müssen: etwa das winzige Motelzimmer, in dem Otis mit seinem Vater lebt und das vom Rückzugsort zum gemeinsamen Gefängnis wird, oder der heruntergekommene Swimmingpool, in den James einen väterlichen Freund des Jungen schubst. Nur langsam kann Otis später in der Therapieeinrichtung das Doppelzimmer und seinen Mitbewohner als Chance zum Neuanfang begreifen, und den Pool, in dem die Wassertherapie stattfindet, als Oase wahrnehmen.
Auf diese Weise gelingt es Har’el, sowohl die Veränderung in Otis’ kompliziertem Verhältnis zu seinem Vater als auch in seinem Blick auf das Showbusiness spürbar nachzuzeichnen. Otis’ Wunsch nach einem liebevollen Vater scheitert immer wieder schon an so kleinen Dingen wie dem Handhalten in der Öffentlichkeit. Er solle nicht verweichlichen, so James. Trotz seiner Fehler stellt ihn der Junge auf ein Podest und will nur das Beste in ihm sehen. Nur langsam wächst die Erkenntnis, dass der Vater seinen Ruhm nicht nur mit Stolz betrachtet, sondern auch mit Neid – und innerlich mit sich ringt.
Shia LaBeouf verschiebt sein Rollenprofil
Dass Shia LaBeouf diese Rolle selbst spielt, macht eine vollends unsympathische Figur erstaunlicherweise beinahe liebenswert. Denn er verdeutlicht einerseits seine Suche nach den Beweggründen des Vaters, lässt aber andererseits auch dessen Zerrissenheit zwischen seinem eigenen Scheitern, dem Wunsch, seinem Sohn zum Erfolg zu verhelfen, und dem Eingeständnis, dass er letztendlich auch damit nicht umgehen kann, spürbar werden. LaBeoufs Zusammenspiel mit Jungdarsteller dem Noah Jupe macht die Vater-Sohn-Beziehung zu einer schmerzvollen Co-Abhängigkeit. Die Gefahr für Kinderstars, auszubrennen und von der Bildfläche zu verschwinden, wird hier mehr als verständlich.
Shia LaBeouf konnte sich wie Otis das Leben im Dauerrampenlicht nicht aussuchen, doch er scheint es sich im Rampenlicht wieder zurückzuerobern. Seine Auftritte in „American Honey“ (2016) von Andrea Arnold und dem Independent-Film „The Peanut Butter Falcon“ (2019) ließen bereits eine Wende in seinem Schauspiel erkennen – weg vom Blockbuster, hin zu einem eigenen Stil, in teils quirligen, teils verschrobenen Außenseiterrollen jenseits des Mainstreams. Spätestens mit „Honey Boy“ nimmt er nun die Zurschaustellung seines Lebens in die eigene Hand und überwindet sie aktiv. Das ist entwaffnend aufrichtig und wird durch Alma Har’els emotionale Spurensuche zu einem filmischen Kleinod, das diesen gewichtigen Stoff mit Leichtigkeit und Esprit jongliert.