Ein paar Männerhände bearbeiten an einem Tisch konzentriert einen Champagnerkorken. Durch die gewundene Drahtschlaufe wird schließlich ein schlichtes schwarzes Band gezogen, und fertig ist eine berückend einfache Kette. Später sieht man sie an einem Styropor-Torso hängen.
Mehr als die Hände des Modedesigners Martin Margiela bekommt man in dem Dokumentarfilm von Reiner Holzemer nicht zu Gesicht. In seiner 20-jährigen Laufbahn hat sich der mythenumwobene Margiela kein einziges Mal öffentlich gezeigt. Auch Fotos sind von ihm nicht in Umlauf. „Mystery-Man“, titelte damals der „Sunday Telegraph“. Margiela galt als „Pynchon“ der Modewelt, als ein Phantom.
Neue Parameter für die Kunst
Um eine Distinktionsgeste ging es Margiela dabei allerdings nicht. „Mir gefällt die Vorstellung nicht, berühmt zu sein. Anonymität ist mir sehr wichtig. Zu sein wie alle anderen verleiht mir Ausgeglichenheit“, erklärt er in „Martin Margiela – Mythos der Moderne“. Das von ihm geschaffene Produkt sollte allein mit seinem Namen verbunden sein, nicht mit einem Gesicht. Auf diese Weise fielen auch die Pressegespräche weg, Interviews und Fotosessions. Auch nach seinem Rückzug aus der Modewelt im Jahr 2009 hat Margiela seine Anonymität weiter bewahrt. Umso wertvoller ist es, dass es nun einen Film gibt, in dem er umfassend und detailliert Auskunft über seine Arbeit gibt – aus dem Off.
Nach den üppigen 1980er-Jahren mit ihren ausladenden, figurbetonten Formen und verschwenderischen Events führte der in Genk geborene Belgier mit den beginnenden 1990er-Jahren völlig neue Parameter in der Mode ein. Margiela arbeitete wie ein Bildhauer – und noch mehr wie ein Konzeptkünstler. 1988 gründete der ehemalige Assistent von Jean-Paul Gaultier zusammen mit Jenny Meirens das Maison Martin Margiela und malte den gesamten Laden weiß an, einschließlich der Telefone, Fernseher und Schreibtische. Markenzeichen wurde das unbeschriftete und nur mit vier Stichen angenähte Etikett, das der Fetischisierung von Namen und Logos eine Leerstelle entgegensetzte.
Ein Arzt, der den Körper seziert
Margiela verwendete Alltagsmaterialien wie Paketklebeband und Plastikfolien, ließ Models in rote Farbe treten und verhüllte ihre Gesichter mit einem strumpfartigen Schleier, um das Augenmerk allein auf das Kleidungsstück und seine Bewegung zu lenken. Als „Signature pieces“ gelten der Tabi-Schuh, ein nach Vorbild des japanischen Tabi (ein hufartiger Schuh mit abgeteiltem Zeh) angefertigter Ankle-Boot, der aus verschiedenen Armeestrümpfen bestehende „Sock Sweater“ und Jackets mit eingenähten Polstern, die die Schultern seitlich hervorspringen ließen. Oftmals wurde die Funktion der Kleidung mitausgestellt, das Objekt dekonstruiert. „Es ist wie bei einem Arzt, der einen Körper seziert“, brachte es Lidewij Edelkoort über den Dekonstruktivisten Margiela auf den Punkt. Die Trendforscherin kommt in dem Film ebenso zu Wort wie der Modehistoriker Olivier Saillard und ehemalige Mitarbeiter und Models.
Reiner Holzemer, der schon in „Dries“ über den belgischen Modeschöpfer Dries van Noten den kreativen Prozess ins Zentrum rückte, gelingt mit „Martin Margiela“ eine noch präzisere Arbeit. Der neue Film besitzt den Charakter einer umfassenden Retrospektive. Die für Designerporträts typische Aufgekratztheit weicht hier einem fast nachdenklichen Tonfall. Dramaturgischer Faden ist das gemeinsame Sichten der sorgfältig katalogisierten Archivschachteln, aus denen ein Schatz nach dem anderen zum Vorschein kommt: etwa sein erstes, damals noch für eine Barbiepuppe angefertigtes graues Jacket, das schon ganz nach Maison Martin Margiela aussieht, oder ein frühes Stück, das während seines Studiums an der Antwerpener Königlichen Akademie der Schönen Künste entstand.
Es ist alles da
Die Aufmerksamkeit für Texturen und Stoffe – bei Margiela sind es oft auch Materialien wie Plastikfolie – ergänzt sich gut mit den grisseligen Videobildern der Modenschauen. 2002 verkaufte Margiela sein Unternehmen an die Diesel-Gruppe. Daraufhin zog ein anderer Ton ein. Plötzlich gab es einen „Branding-Manager“ im Haus und Begriffe, die bisher bei Margiela nichts verloren hatten – etwa „sexy“ oder „modern“. In seiner neuen Rolle als Kreativdesigner einer Firma fand sich Margiela nicht wieder, auch den Übergang ins digitale Zeitalter mit seinen Anforderungen an mediale Dauerpräsenz empfand er als Schwelle, die er nicht zu übertreten bereit war.
„Martin Margiela – Mythos der Moderne“ macht, anders als es vielleicht der Titel erwarten lässt, keinen Kult um seine Titelfigur. Man vermisst sein Gesicht nicht, es ist so alles da.