Im April 1895 wird der französische Artillerieoffizier Alfred Dreyfus zur Isolationshaft auf die Teufelsinsel vor Französisch-Guayana an der Nordküste Südamerikas verbannt. Zuvor hatte ihn ein Militärgericht wegen Spionage für die Deutschen mit einstimmigem Votum zu Degradierung und lebenslanger Haft verurteilt. Nachdem sich Dreyfus’ Zellentür geschlossen hat, zeigt Roman Polanski die Insel in mehreren Totalen, die ineinander überblenden: zunächst noch deutlich sichtbar, dann immer weiter weg, bis sie schließlich, mitten im Meer, kaum noch zu erahnen ist. Eine Montage von doppelter Bedeutung: Alfred Dreyfus sieht sich ins Nichts abgeschoben. Und die Militärrichter seines Landes hoffen, ihn mit der Verbannung zugleich auch dem Vergessen ausgeliefert zu haben.
Dass dies ein Trugschluss war, dass Verurteilung und Verbannung erst den Anfang eines Skandals bedeuteten, der den französischen Staat ins Wanken brachte, ist hinlänglich bekannt und in Literatur und Film oft behandelt worden. Der Schriftsteller Emile Zola, der sich vehement für eine Rehabilitierung von Dreyfus eingesetzt hatte, griff das Thema in einem seiner letzten Romane, dem 1903 erschienenen „La Vérité“ auf. Anatole France, Marcel Proust, Jean-Richard Bloch, Hannah Arendt schrieben über die Vorgänge; in Deutschland drehte Richard Oswald 1930 den Film „Dreyfus“ mit Fritz Kortner in der Titelrolle, und William Dieterle beleuchtete den Fall in seinem Exilfilm „Das Leben des Emile Zola“ (1937), um nur einige Beispiele zu nennen.
Ein Meisterwerk: ästhetisch, politisch, schauspielerisch
Roman Polanski adaptierte nun den Roman „J’accuse“ von Robert Harris; und zweifellos gelang ihm damit eine der wichtigsten und in jeder Hinsicht bedeutendsten Arbeiten seiner über sechzigjährigen Laufbahn als Regisseur. Ja, „Intrige“ (wie „J’accuse“ in den deutschen Kinos heißt) ist ein Meisterwerk: ästhetisch, politisch, schauspielerisch. Wer den Film verpasst oder ihn boykottiert, um einem Protest gegen die an Polanski gerichteten Vergewaltigungs- und Missbrauchsvorwürfe Ausdruck zu verleihen, versäumt ein zutiefst humanistisches, atemberaubendes und gleichnishaftes Werk.
Tatsächlich ist es Polanski, seinem Co-Autor Robert Harris und dem Kameramann Pawel Edelman gelungen, den historischen Fall höchst gegenwärtig in Szene zu setzen. Das historische Gewand, in das dieses Gleichnis gekleidet ist, mit penibel rekonstruierten Interieurs und Kostümen, wirkt wie ein Kommentar zu aktuellen Geschehnissen. Es geht um die Gefährdung und die Bewahrung rechtsstaatlicher Prinzipien, um demokratisches Engagement gegen mächtige Widersacher. Polanski und Harris rücken dabei nicht den jüdischen Offizier Dreyfus in den Mittelpunkt ihrer Geschichte, sondern den Obersten Marie-Georges Picquart, der die Leitung des Auslandsgeheimdienstes übertragen bekommen hat und immer mehr an der Schuld des Verbannten zweifelt. Picquart nimmt sich der Indizien an, die zur Verhaftung von Dreyfus geführt hatten, entdeckt Schlampereien, Vertuschungen und niederträchtige Irreführungen und begreift bald, dass er in ein Wespennest stößt, wenn er der Wahrheit weiter auf die Sprünge helfen will. Bald wird er selbst bedroht und gedemütigt, zeitweilig in die Kolonien versetzt und wegen seiner Affäre mit einer verheirateten Frau auch erpresst. Doch er bleibt seinem Grundsatz treu, redlich zu klären, was aufgeklärt werden muss.
Ein Kriminaldrama in dunklen, erdrückenden Räumen
Polanski inszeniert das als veritables Kriminaldrama, sachlich, nüchtern, präzise, oft kammerspielartig und in dunklen, erdrückenden Räumen, in denen der Rufmord bestens gedeiht. Als Picquart zum ersten Mal sein neues Büro betritt, gelingt es ihm nur schwer, ein Fenster zu öffnen: Das Stickige, Erstickende, das nicht nur dieses Zimmer prägt, ist für den Zuschauer mit Händen zu greifen. Die Spannung erwächst aus dem Zusammenprall des Wahrheitssuchers mit seinen einflussreichen Widersachern, die alles daransetzen, ihn auszubremsen, ja mundtot zu machen. Ihr Verhalten speist sich aus einem tief verwurzelten Antisemitismus: Die Generalität mag keine Juden.
Auch Picquart hat antisemitische Überzeugungen, Jean Dujardin spielt ihn keineswegs als hehren Helden, sondern als widersprüchlichen Charakter mit dunklen Seiten. In einem Epilog, lange nach dem Ende des Falles, zeigt Polanski eine letzte Begegnung zwischen Picquart und Dreyfus. Inzwischen ist Picquart Kriegsminister und hätte alle Macht, um Dreyfus endgültig wieder in den Stand der Ehre zu versetzen. Doch er verweigert sich: Da kommt der alte Rassendünkel zum Vorschein.
Der Film nimmt sich Zeit, um einen Panoramablick auf die französischen Eliten am Ende des 19. Jahrhunderts zu werfen: Minister, Generäle, Offiziere, Richter, auch ein vom Gericht bestellter Graphologe. Manche Figuren, so der von Mathieu Amalric gespielte Handschriften-Experte, sind von der Regie nahe an einer Karikatur entlanggeführt. Sie werden damit allerdings nicht der Lächerlichkeit preisgegeben; der leicht satirische Blick betont vielmehr ihre Gefährlichkeit: ein Kunstgriff, wie er im deutschen Kino in dem mit „Intrige“ vergleichbaren Film „Affäre Blum“ (1948) von Erich Engel mit hoher Präzision angewandt worden war.
Erschreckend nah
Zum großen emotionalen Tableau setzt Polanski an, wenn er den Einsatz von Emile Zola für Dreyfus beschreibt, die Veröffentlichung des Pamphlets „J’accuse“ im Januar 1898 in der Literaturzeitschrift „L’Aurore“ und die Folgen. In einer überwältigenden Montagesequenz führt Polanski von der Veröffentlichung über die Rezeption des Textes durch einige des Komplotts beschuldigte Männer bis hin zu Szenen von Bücherverbrennungen und antisemitischen Ausschreitungen, etwa der Zerstörung von Fensterscheiben jüdischer Geschäfte. Der latente Judenhass entlädt sich in einem scheinbar irrationalen Rausch, die Bilder zitieren gleichsam Motive der deutschen „Kristallnacht“ 1938. Das scheint fern – und ist doch erschreckend nah. „Intrige“ ist ein Film, der mahnt und warnt.