Erde (2019)
Dokumentarfilm | Österreich 2019 | 121 Minuten
Regie: Nikolaus Geyrhalter
Filmdaten
- Originaltitel
- ERDE
- Produktionsland
- Österreich
- Produktionsjahr
- 2019
- Produktionsfirma
- NGF - Nikolaus Geyrhalter Filmprod.
- Regie
- Nikolaus Geyrhalter
- Buch
- Nikolaus Geyrhalter
- Kamera
- Nikolaus Geyrhalter
- Schnitt
- Niki Mossböck
- Länge
- 121 Minuten
- Kinostart
- 04.07.2019
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Mit schneidend scharfen Bildern protokolliert der Dokumentarfilm die fortgesetzte Zerstörung der Erde durch den Menschen, der mit rabiater Gewalt den Planeten umgräbt, ausbeutet, rodet oder versiegelt.
Rohstoffförderung und die mit ihr verbundene Landschaftsumformung gleicht sich überall auf der Welt. Gewaltige, der Natur entrissene Landmassen werden mit schwerem Gerät bearbeitet. Großfahrzeuge tragen tonnenweise Erde ab, Schaufeln reißen fossiles Gestein aus dem Boden, Sprengstoff verdrängt Felsformationen.
60 Millionen zu 156 Millionen Tonnen: So beziffert der Film „Erde“ eingangs das Verhältnis von natürlicher zu menschlicher Verschiebung von Erdmasse während eines Jahres. Ein Missverhältnis, auf das der Dokumentarist Nikolaus Geyrhalter die Ästhetik seines Dokumentarfilms konsequent ausrichtet. Viel zu kleine Geräte verändern viel zu große Teile der Erde; Landmassen, die so gewaltig sind, dass die Kamera sich Hunderte von Metern in der Ferne begeben muss, um sie auch dann nur teilweise einfangen zu können.
Ein automatisiertes Schauspiel
In der Eröffnungsszene schiebt sich ein winziges Kettenfahrzeug einen gewaltigen Berg hinab, vor sich eine kleine Gerölllawine, welche die Felswand hinunterrieselt. Ein mechanisches, scheinbar völlig automatisiertes und folgenloses Schauspiel, das in Wirklichkeit einen Prozess darstellt, der mit der unermüdlichen Beharrlichkeit der Maschine einen ganzen Berg, eine ganze Landschaft und einen ganzen Planeten verändert.
Aus der Luft aufgenommen, wirkt dieser Prozess umso abstrakter. Die Landmasse teilt sich in mehrere Ringformen, durch die linienförmige Straßen laufen. Nur die Baufahrzeuge, die als kleine Punkte durchs Bild gleiten, weisen in diesem Muster auf einen fortlaufenden Prozess hin. Der Mensch selbst ist in den gleichförmigen, vollautomatisierten Bewegungsformen des Tagebaus nicht mehr zu erkennen.
Wie anmaßend ein derartiger Eingriff durch den Menschen ist, macht der Film nicht nur im Raum, sondern auch anhand der Zeit fest. Die Erdschichten, die der Tagebau in wenigen Monaten freilegt, haben sich über Millionen von Jahren aufgehäuft. Was in diesem für Menschen kaum fassbaren Zeitraum versteinerte, ist somit älter, als es die Menschheit jemals sein wird. Ein zufällig freigeschaufeltes Baumfossil hat sich in über fünf Millionen Jahren zu einer fast diamantartigen Härte verdichtet, der nur mit Spezialgerät beizukommen ist.
Nicht mehr rationalisierbares Missverhältnis
Ein Schaufelbagger, groß wie ein Wohnblock, gräbt langsam und stetig tiefe Furchen in dieses uralte Gestein. Gesteuert wird die riesige Maschine von einem einzigen Menschen. Die Absurdität dieses Vorgangs bekommt, auf einer geologischen Skala betrachtet, einen neuen Bezugsrahmen. Auf diesen versucht der Film mittels seiner Ästhetik das menschliche Handeln zu übertragen. Weder Wachstum, Wohlstand noch das Bruttoinlandsprodukt zählen als relevante Werte. Dem Menschen steht allein der von ihm gestaltete Lebensraum gegenüber, in einem Missverhältnis, das nicht mehr rationalisierbar ist.
60:156 ist das Missverhältnis, das der Film wie eine Hieroglyphenschrift im Gestein auf den Großbaustellen aller Welt wiederfindet. In den Millionen Jahre alten Erdschichten scheint es wie eine Warnung festgeschrieben: Die Produktionskraft der menschlichen Technik hat sich zu weit über seine Vorstellungskraft hinaus entwickelt. Der Mensch produziert nicht nur mehr, als er verantworten, sondern auch mehr, als er begreifen kann. 60:156 ist eine Kluft, die rational kaum mehr zu fassen ist. Die kurzen Interviews, in denen Menschen versuchen, Worte dafür zu finden, wie viel Erde sie anhäufen, abtragen, umgraben, roden und versiegeln, formulieren eine allumfassende Sprachlosigkeit. Händeringend versuchen Arbeiter und Projektleiter, allesamt wohlvertraut mit den ökologischen Folgen ihrer Arbeit, Sätze für das zu finden, was ihre Technik mit der Erde macht.
Wo es die Sprache verschlägt
„Wie fühlt es sich an, Berge zu versetzen?“, ist die erste Frage, die Geyrhalter stellt. Eine direkte Antwort gibt es von seinem Gegenüber nicht. Der Mann hat schlichtweg keine Worte für diesen Vorgang. Eine Ingenieurin, gefragt nach der Bedeutung ihrer Arbeit für die Biosphäre, bringt nur eine unter permanentem Schulterzucken formulierte Plattitüde heraus. Interview um Interview reiht der Film stets aufs Neue Bilder von Ernüchterung und Resignation aneinander. Geyrhalters Suggestivfragen können Einzelpersonen ebenso wenig beantworten wie die Industriegesellschaft als Ganzes. Keiner kann die Zerstörung der Erde als logische Konsequenz des Fortschritts rechtfertigen. Keiner will das eigene Land bis zur Unkenntlichkeit zerstören. Keiner kann sich noch eine Zukunft vorstellen, in der diese Zerstörung nicht die logische Konsequenz des Fortschritts wäre. Ein Fatalismus, in dem sich „Erde“ sukzessive festgräbt.
Die gewaltige Kluft, die sich dort auftut, wo das Bewusstsein für die zerstörerischen Folgen des Raubbaus vorhanden ist, der Einzelne aber unfähig ist, das eigene Handeln entsprechend anzupassen, zeigt eindringlich die Zwänge eines technisch aufgerüsteten, globalen und wachstumsorientierten Wirtschaftssystems auf. Am deutlichsten wird das aber nicht dort, wo es den Menschen vor der Kamera die Sprache verschlägt, sondern da, wo der Mensch vor der Erde, über die er sich zu verfügen anmaßt, zum fast unsichtbaren Fleck wird: Wo er selbst in den Gräben verschwindet, die seine Maschinen in den Boden gerissen haben.