Was ist „Tatort“ und wozu sehen wir ihn heute noch, könnte man in Abwandlung von Friedrich Schiller fragen. Ein Genre oder Subgenre? Eine lange Jahre laufende Erfolgsserie? Oder doch eher eine (manchmal unfreiwillige) gesellschaftliche Dokumentation? Ein echter Krimi mit Kapitalverbrechen, Suspense, Whodunit? Oder ehrlicherweise oftmals eine rechte Jökelei und Nabelschau mittelalter Herren (Münster!) und ein lustiges postmodernes Umeinanderwerfen von Zitaten und Anspielungen, alles auf der sogenannten Metaebene, versteht sich ...? Wenn man „Dekadenz“ als den Verlust der Selbstverständlichkeit definiert, als das Fragwürdigwerden der eigenen Existenzgrundlagen, so ist das urdeutsche Serienphänomen „Tatort“ allerdings bereits in seine (über-)reife Spätphase eingetreten. Götterdämmerung der Öffentlich-Rechtlichen also? Nun, soweit muss man nicht gleich gehen. Bekanntlich bringt ja auch der Herbst noch so manche schöne Blüte hervor, und um eine solche handelt es sich jedenfalls bei der neuesten Produktion des hr mit dem exzentrischen Kommissar Felix Murot (Ulrich Tukur) nach einem Originaldrehbuch von Regisseur Dietrich Brüggemann. Wir schreiben das Jahr 49 der „Tatort“-Reihe, Folge 1084: Wäre die Serie ein Mensch, es ließen sich leichte Symptome der Midlife-Crisis ausmachen, die Sinnfrage stellt sich dringlicher: Gibt es wirklich nichts Neues mehr unter der Sonne?
Murot ist tot! Lang lebe Murot!
Als Felix Murot eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett – nein, nicht zu einem Murmeltier verwandelt, jedoch mit einem Fall konfrontiert, der in ihm sogleich den Verdacht weckt, etwas könne wohl nicht ganz alltäglich daran sein. Seine Kollegin Magda Wächter (Barbara Philipp) ruft an, Überfall auf die „Taunusbank“, mit Geiselnahme, noch keine Forderungen. Murot möge doch bitte schnell kommen, die Ermittlungen leiten, mit dem Täter verhandeln. „Wer überfällt denn heute noch eine Bank?!“ ist Murots nachvollziehbar skeptische Reaktion, und unausgeschlafen und missmutig stolpert er in den Tag, den er so bald nicht vergessen soll ... Die Zuschauer verfolgen ihn bei seiner Morgenroutine und erleben mit ihm die alltäglich-unpersönlichen Begegnungen mit den Menschen und dem Leben, bevor er am Tatort eintrifft und sich nach kurzer, männlich-barscher Klärung der Lage mit Schutzpolizei und SEK anschickt, selbst und allein die Bank zu betreten, um den oder die Täter psychologisch aus ihrer dummen Idee herauszuverhandeln. Aber er macht einen fatalen Fehler! Da er nicht alle Räume gesichert hat, übersieht er die Komplizin des Haupttäters, die ihn am Ausgang der Bank stellt und mit einem Kopfschuss glatt erledigt. Murot stirbt, Murot ist tot!
Wiederholung mit Variation
Doch mitnichten: Harter Schnitt in die Vogelperspektive, und Murot liegt wieder in seinem Bett, jäh auffahrend und diesmal bereits deutlich beunruhigter. Das Telefon klingelt (erneut?). Wieder Wächter, wieder Banküberfall. Die Ereignisse scheinen sich 1:1 zu wiederholen. „Was ist mit mir geschehen?“, könnte Murot nun wie einst Kafkas Gregor Samsa aus „Die Verwandlung“ fragen. Ist er in einer Zeitschleife gefangen, und wenn ja, warum – und nur er oder auch andere? Neben der Klärung des Falles versucht Murot im Weiteren, diesen Dilemmata auf den Grund zu gehen. Dabei wird er verständlicherweise zunächst zunehmend panisch, bis er sich gegen Ende zu einem gelassenen Fatalismus durchringt, denn letztlich kann ihm so weder Tod noch Schicksal etwas anhaben.
Immer wenn seine Ermittlungen, seine Sinnsuche für ihn oder andere fatale Folgen zeitigen, findet er sich wieder in seinem Bett, auf Spielfeld 0 sozusagen. Dass er nicht gänzlich verzweifelt, liegt wohl an dem Umstand, dass es Variationen gibt in diesem verhexten Tagesablauf, dass er die Erinnerung bewahrt an den vorigen Durchgang und also der Lösung ‚seines‘ Falles gleichsam iterativ näherkommen kann. „Es ist nicht alles festgelegt“, erkennt er früh und handelt danach. Das Drehbuch folgt also schon im Titel erkennbar dem Muster von „Und täglich grüßt das Murmeltier“ (Regie: Harold Ramis, USA 1993) und nicht etwa dem Modell „Lola rennt“ (Tom Tykwer, D 1998), die ohne Erinnerungsvorsprung dreimal in ihren Schicksalstag startet.
Sogar an den geheiligten Vorspann wird Hand angelegt
Des Weiteren arbeitet der Film stark mit Motiven der Wiederholung und Permutation. Das beginnt mit Murots morgendlichen Ritualen in seiner für „Tatort“-Verhältnisse überraschend kargen Behausung und reicht bis zu den kurzen Interaktionen mit seinen Assistenzfiguren (auch Wächter bleibt diesmal ganz überwiegend eine solche). Einige Filmzitate wurden augenzwinkernd eingebaut („Dinner for One“), die das Sehen dieses „Tatorts“ auch in der Wiederholung reizvoll machen dürften. Einmal darf man Ulrich Tukur sogar kurz beim Singen und Steppen erleben. Das Team nimmt sich teilweise starke gestalterische Freiheiten, legt etwa kreative Hand an den geheiligten Vorspann und ersetzt die meist eher populäre Musik durch einen Soundtrack, der an klassische Suspense-Filme erinnert und vom hr-Sinfonieorchester großorchestral eingespielt wurde. Das Ende kommt zwar wie in Ramis’ Film nachvollziehbar und nicht gänzlich überraschend, doch alles in allem ist der Film ein (vor allem von Tukur) gut gespielter, formal innovativer Beitrag zur Reihe mit doppeltem Boden, der allerdings eher die Denker und Diskutanten vor dem Schirm ansprechen dürfte, weniger die Traditionalisten zünftiger „Tatort“-Unterhaltung.