Gerichtsdrama über den Prozess gegen den österreichischen Naziverbrecher Franz Murer, der im Ghetto in Vilnius für die Vernichtung der Bewohner verantwortlich war, im Jahr 1963. Präzise deckt der Film die Strategien auf, die zu einem skandalösen Gerichtsurteil führten, und erklärt diese als Resultat der Staatsräson, die Österreich auf die Seite der Opfer mogeln sollte.
Im Frühjahr 1963 wurde in der steierischen Landeshauptstadt Graz ein Schwurgerichtsprozess gegen Franz Murer (1912-1994) eröffnet, der mit einem Freispruch endete. Der aus bäuerlichen Verhältnissen stammende Angeklagte war als „Referent für jüdische Fragen“ zwischen 1941 und 1943 für das Ghetto in Vilnius zuständig gewesen. In dieser Zeit wurde der Anteil der jüdischen Bevölkerung im einstigen „Jerusalem des Nordens“ von 80.000 auf 600 Menschen dezimiert. Dokumente und Augenzeugen benannten Murer nicht nur als Verantwortlichen für Deportation und Massenerschießungen, sondern auch als individuellen Täter, der eigenhändig eine Vielzahl von Wehrlosen ermordet hatte. Murer liebte es, im weißen Fiaker durch sein Herrschaftsgebiet zu kutschieren und unberechenbare Gewaltakte zu vollziehen. Sein Sadismus brachte ihm den Ruf als „Schlächter von Wilna“ ein. 1948 wurde er von Österreich an die Sowjetunion ausgeliefert, wo er nach einem ersten Kriegsverbrecher-Prozess zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde. Infolge des „Österreichischen Staatsvertrags“, der den Status der Republik im Verhältnis zu den Siegermächten regulierte, konnte Murer 1955 in seine Heimat zurückkehren. Nach dem Freispruch im Jahr 1963 lebte er bis zu seinem Tod 1994 als geehrter Mitbürger und ÖVP-Lokalpolitiker im idyllischen Gaishorn am See.
Regisseur Christian Frosch blättert in „Murer – Anatomie eines Prozesses“ diese historischen Hintergründe in sich allmählich verdichtenden Fragmenten auf. Es geht ihm dabei nicht primär um die Rekonstruktion des beschämenden Prozesses. Die Fakten sind ja gut recherchiert und in der Fachliteratur nachlesbar. Sie kommen im Film auf nachdrückliche Weise vor, geraten aber nie zum Selbstzweck. Das im Untertitel als „Anatomie“ bezeichnete Verfahren des Regisseurs legt vielmehr das Zusammenspiel ineinandergreifender Energien bloß, die zu dem massenmörderischen Treiben geführt haben. Der Film beschreibt die vielschichtigen Intrigen und Gegenintrigen, die individuellen und gruppendynamischen Motivationen, die bei allen beteiligten Parteien immer komplexer werden. Sehr schnell zeigt sich, dass Grenzziehungen keineswegs so klar konturiert verlaufen, wie dies zunächst anzunehmen wäre. Gerade in den Zwischenbereichen findet die Inszenierung Punkte, an denen sie ihre klugen dramaturgischen Hebel anzusetzen weiß.
Der Prozess erweist sich als Maßnahme der Staatsräson
Inmitten all der Aktivitäten von Unterstützern und Gegnern Murers steht das Gericht selbst. In diesem Zentrum löst sich jedoch, wie sich bald herausstellt, das Neutralitätsgebot auf. Über den Richter wird bekannt, dass er als aktives NSDAP-Mitglied noch bis 1945 Deserteure zum Tode verurteilt hat. Der Staatsanwalt steht unter massivem politischen Druck von Rechts wie Links. Und die Geschworenen stellen sich teilweise als handverlesene Marionetten heraus. Der Prozess gegen Franz Murer erweist sich zuletzt als eine Maßnahme der Staatsräson. Der raffiniert eingefädelte Freispruch wird als Beitrag zum sehr speziellen „Nation Building“ sichtbar, das Österreich auf die Seite der historischen Opfer stellte. Dafür wurden die eigentlichen Opfer verraten.
Mit welcher Präzision der Film diese Strategien dabei herausarbeitet, macht ihn zu einem hochpolitischen Akt. Denn diese Weichenstellung der Viktimisierung führt zu bis heute virulenten Folgen. Frosch spielt das Genre des Gerichtsdramas an, bedient sich dabei aber eines Tricks. Am Anfang wird mit dem Klassiker „Die zwölf Geschworenen“ (1957) sogar eine konkrete Referenz benannt. Doch anders als bei Sidney Lumet geht es in „Murer“ nur am Rande um die Entscheidungsfindung innerhalb eines juristischen Laiengremiums. Die acht Grazer Geschworenen werden zwar immer mal wieder ins Zentrum gerückt, geraten zwischendurch aber auch völlig in den Hintergrund. Erst ganz am Ende steht die Gruppe wieder im Zentrum. Dann erweist sich ihre vorgebliche Unabhängigkeit jedoch endgültig als Farce.
Im konventionellen Kino formen sich zunächst die als heterogen eingeführten Gruppen nach und nach zu einem Körper um, in dem die einzelnen Charaktere unterschiedliche Funktionen übernehmen. Bei „Murer“ hingegen vollzieht sich ein umgekehrter Prozess. Zuletzt steht die Auflösung, nicht die Synthese. Dieses Prinzip reproduziert sich auch in vielen Figuren. Die anfangs Starken werden schwach, die Integren korrupt – und umgekehrt. Nur der Angeklagte selbst bleibt mit seinen emotionalen und moralischen Leerstellen stabil. In ihm vollzieht sich weder äußerlich noch innerlich eine Wandlung.
Zur rechten Zeit die notwendigen Töne
Mittels der Montage von Karin Hammer und der agilen Kamera von Frank Amann verstärkt sich dieser immer stärker werdende Eindruck von Entropie zusätzlich und korrespondiert darin mit der Botschaft des Films. In einem Statement formulierte der Regisseur Christian Frosch: „Österreich hat keine Seele und keinen Charakter. Österreich besteht aus Tätern, Zuschauern und Opfern.“ Das klingt harsch, schlägt aber offenbar zur rechten Zeit die notwendigen Töne an. Als „Murer“ im März dieses Jahres zur Eröffnung der „Diagonale“, dem Festival des österreichischen Films in Graz, also am Ort des historischen Geschehens, gezeigt wurde, ging ein Beben durch den Kinosaal.
Nun kommt der gewichtige Film endlich auch nach Deutschland. Der 1966 in Niederösterreich geborene Christian Frosch hat lange Zeit in Berlin gelebt. Ihm sind wunderbar verspielt-skurrile Autorenfilme wie „Die totale Therapie“ (1996), „K.af.ka fragment“ (2002) oder „Weiße Lilien“ (2007) zu verdanken. Mit „Von jetzt an kein zurück“ (2014) wandte er sich von seinem bis dato ironischen Stil ab. Frosch trat damit in eine neue Phase seines Schaffens ein, die in „Murer“ eine Fortsetzung findet. Der Film entstand erstmals ohne deutsche Beteiligung. Es ist ein Armutszeugnis, dass dieses wichtige Werk deshalb nur unter Schwierigkeiten einen Verleih fand.