Auf der Fähre zur Ostsee-Insel Hiddensee blickt der junge Mann zurück aufs Festland, in Gegenrichtung zum Rest der Passagiere. Am FKK-Strand zieht er erst nach einigem Zögern sein Hemd aus, um nicht allzu deutlich zu verraten, dass er weder Sonnenbader noch Inselbewunderer ist. Das westlich von Rügen liegende Hiddensee ist 1989, in den letzten Tagen der DDR, ein idyllisches Ausflugsziel, das auch mit seiner Geschichte als Domizil von Künstlern wie Gerhart Hauptmann wirbt. Vor allem aber ist es ein Ort in Sichtweite von Dänemark und damit Startpunkt für zahlreiche Versuche, aus der sozialistischen Diktatur zu fliehen. Versuche, die meist allerdings mit einem frühzeitigen Aufgriff durch die Grenzpolizei oder mit Ertrinken enden. Diese Informationen liefert Thomas Stuber am Anfang seines Films in Form eines kurzen Dialogs, während seine Adaption von Lutz Seilers mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnetem Roman „Kruso“ sich ansonsten angenehm mit Hintergrunderklärungen zurückhält. Was die Figuren auf der Insel umtreibt, vermittelt sich zuerst durch Handlungen und weniger durch Worte. Die Atmosphäre einer Umbruchzeit ist gleichwohl unübersehbar.
So belässt die Verfilmung auch dem titelgebenden Alexander Krusowitsch, genannt „Kruso“, seine mitunter fast mystische Aura des „guten Geistes“ der Insel, betont diese sogar noch weiter, wenn Kruso dem Protagonisten Edgar Bendler bereits zu Beginn seines Aufenthalts auf der Insel erscheint: Der Germanistik-Student, dem nicht das System, sondern der unverarbeitete Tod seiner Freundin Fluchtgedanken eingegeben hat, ist im Schilf schon fast aufgespürt, als ihn eine Gestalt zu Boden reißt und seine Entdeckung und Festnahme verhindert. Mit der zugerufenen Adresse eines Zufluchtsorts begibt sich Edgar am nächsten Tag zur Gaststätte „Zum Klausner“, wo er wohnen und als Tellerwäscher arbeiten kann, sich in die Belegschaft eingliedert und auch Kruso wiedertrifft. Der seit seiner Kindheit auf Hiddensee lebende Sohn eines russischen Generals wird Edgars Freund, der ihn mit seiner hilfsbereiten und umtriebigen Art in die Kunst des Geschirrspülens einweiht und auch an seinen geheimen Operationen teilhaben lässt: Kruso besorgt Quartiere für „Gestrandete“, Menschen, die es wie Edgar mit vagen Fluchtabsichten auf die Insel verschlagen hat, wo ihnen ohne Aufenthaltserlaubnis ständig die Verhaftung droht.
Thomas Stuber interessiert an dieser Geschichte vor allem das Geflecht der Arbeitsprozesse, das die kleine „Klausner“-Gemeinschaft zusammenhält: Die Akkord-Zubereitung in der Küche, die Übergabe an die Kellner, ihr Balancierakt zwischen den Tischen, das rasche Abräumen der Teller angesichts des begrenzten Geschirrs, das Geschwindigkeits-Spülen inmitten eines Gemisches aus Wasser, Lauge und Essensresten, zwischen alldem der Gastwirt Krombach, der mit Knoten-Vorführungen die wartenden Gäste ablenkt. Die aufmerksame, respektvolle Beobachtung, wie jedes Arbeitsrädchen präzise in das andere greift, die Betriebsamkeit das Selbstbewusstsein der Arbeiter befeuert und sich wie im Falle von Kruso auch auf Nebentätigkeiten überträgt, verbindet die Romanadaption mit Stubers Kinofilm „In den Gängen“. Im Gegensatz zur Darstellung des Großmarkts in letzterem erscheinen allerdings weder Hiddensee noch der „Klausner“ als eine Insel der Seligen inmitten einer feindseligen Außenwelt. Die Hinweise auf den Zusammenbruch des Systems sind unmissverständlich. Über das gegen den Willen von Kruso permanent laufende Radio dringen Nachrichten über die massenhafte Ausreise von DDR-Bürgern nach Ungarn herein, auch die „Klausner“-Mannschaft dezimiert sich zusehends, ein schon vorher schwelendes Gewaltpotenzial bricht immer öfter aus.
Eine leicht unwirkliche Atmosphäre durchzieht den Film, starke visuelle Kontraste zwischen grellem Licht und Dunkelheit heben den Zwischenreich-Charakter der Insel hervor, in dem sich Edgar und Kruso am längsten gegen die unausweichliche Erkenntnis stemmen. In einem durchweg stimmigen Ensemble vermittelt Jonathan Berlin eindringlich die Verletzlichkeit von Edgar und seinen zurückkehrenden Lebensmut, doch gehört der Film letztlich dem Darsteller seines Titelcharakters: Es ist bereits die dritte herausragende Fernsehrolle 2018 für Albrecht Schuch nach dem aggressiven Jungbanker in „Bad Banks“ und dem gewissensgeplagten Gesetzeshüter in „Der Polizist und das Mädchen“, und auch Kruso verleiht er eine schillernde Kontur zwischen zupackendem Gestus, sanfter Empathie und tiefsitzendem Schmerz. In ihm manifestiert sich am Ende auch das Scheitern einer utopischen Idee von Freiheit, die innerhalb einer unfreien Gesellschaft immer nur eine Illusion war. Der Film wird so zu einem der ehrlichsten Werke über die DDR, das bei allem Mitgefühl für die Figuren auf jede Verklärung verzichtet.