Wonderstruck

Drama | USA 2017 | 117 Minuten

Regie: Todd Haynes

Ein tauber Junge macht sich im Jahr 1977 nach dem Unfalltod seiner Mutter nach New York auf, um seinen ihm unbekannten Vater zu suchen. Damit folgt er unwissentlich den Spuren eines Mädchens, das 50 Jahre zuvor ihrem hartherzigen Vater entfloh und ebenfalls taub war. Nach einem Kinderbuch fantasievoll gestalteter Film, der die beiden Handlungsstränge ineinander verzahnt und mit einer bis ins Mystische überhöhten Sehweise fasziniert. Der staunende Blick auf die eigene Kunstfertigkeit sorgt allerdings auch dafür, dass die wundersame Story zeitweise sehr langsam fortschreitet. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
WONDERSTRUCK
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Amazon Studios/Cinetic Media/FilmNation Ent./Killer Films/Picrow
Regie
Todd Haynes
Buch
Brian Selznick
Kamera
Edward Lachman
Musik
Carter Burwell
Schnitt
Affonso Gonçalves
Darsteller
Millicent Simmonds (Rose) · Julianne Moore (Lillian Mayhew / Ältere Rose) · Oakes Fegley (Ben) · Michelle Williams (Elaine Wilson) · Jaden Michael (Jamie)
Länge
117 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama | Literaturverfilmung | Mystery
Externe Links
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Zwei ineinander verzahnte Geschichten tauber Kinder aus unterschiedlichen Zeiten, deren Wege sich imaginär in New York kreuzen. Von Regisseur Todd Haynes nach einer Kinderbuchvorlage fantasievoll gestaltet.

Diskussion

Brian Selznick, der Autor des zugrundeliegenden Kinderbuchs, ist stets auf der Suche nach Wundern. Meist sind es Wunder der kindlichen Psyche oder Wunder der Imagination kindlichen Denkens und Fühlens. Sein bekanntestes Buch, „The Invention of Hugo Cabret“ (2007), hat Martin Scorsese zu einem Film inspiriert, der in seiner fantastischen Realisation zu den überraschendsten Werken des großen Regisseurs gehört. Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, was den Regisseur Todd Haynes veranlasst hat, sich mit „Wonderstruck“ einer ebenfalls von wundersamen Figuren und Abenteuern bevölkerten Selznick-Geschichte anzunehmen. Mit seinen Filmen „Dem Himmel so fern“ (fd 35 836) und „Carol“ (fd 43 556) hat Haynes längst hinreichend bewiesen, dass er einer der feinfühligsten Filmemacher unserer Zeit ist, dessen Blick für Verborgenes immer tiefer und weiter reicht, als man es von den Fakten der erzählten Geschichte erwartet.

So ist es auch bei „Wonderstruck“, in dessen Mittelpunkt zwei Kinder stehen, deren Schicksale als seltsame Fügungen des Lebens parallel vorgestellt werden, obwohl sich die beiden nie zu Gesicht bekommen und die Geschehnisse gar nicht in derselben Zeit spielen. Die Geschichte des kleinen Ben spielt im Jahr 1977, als seine Mutter bei einem Autounfall ums Leben kommt und er sich nach New York aufmacht, um nach seinem ihm unbekannten Vater zu suchen. Rose hingegen entfloh bereits 50 Jahre zuvor einem hartherzigen Vater, um ebenfalls in New York den Spuren einer wunderschönen Schauspielerin zu folgen. Was beide Kinder gemeinsam haben und was ihre Suche immer wieder erschwert, ist die Tatsache, dass sie taub sind.

Haynes erzählt die beiden Geschichten nicht etwa hintereinander oder in Rückblenden, sondern er verzahnt sie so ineinander, dass sie im Lauf des Films für den Zuschauer zu einem intrikaten Universum werden, in dem sich fortwährend Bezüge finden, die ahnungsvoll voraussehen lassen, dass zwischen Ben und Rose eine versteckte Beziehung bestehen muss. Erst in der Schlusssequenz des Films enthüllt sich, worin diese Beziehung besteht.

Die Rätselhaftigkeit, die der kunstvollen Verschachtelung der beiden Schicksale anhaftet, macht aber keineswegs den ganzen Film aus. Die Stadt New York, in die Haynes seine kleinen Protagonisten entlässt, entpuppt sich als ein Hort der Wunder, wie sie kindlicher Fantasie entsprungen sein könnten und reale Gestalt angenommen haben. Der Buchladen, in dem sich die Geschichten der Menschheit förmlich zu Bergen stapeln; die Bilder und Gegenstände bis an den Rand gefüllter Kuriositätenkabinette; die hektische Fülle der Straßen und U-Bahn-Schächte; und vor allem die überlebensgroßen Darstellungen einer vergangenen Fauna und Flora in dem riesigen Naturkundemuseum, in das sich die Kinder, zu unterschiedlichen Zeiten, verlaufen.

Über lange Strecken verläuft sich allerdings auch der Film in die Verliebtheit des Regisseurs in die komplementäre visuelle Vielfalt und Opulenz dieser aus verschiedenen zeitlichen Perspektiven betrachteten Welt. Haynes taucht so tief und so lange in deren oft atemberaubende Dimensionen ein, die er mit den staunenden Augen der tauben Kinder ins Mystische überhöht, dass der Fortgang der Geschichte fast bis zum Stillstand verlangsamt wird.

Es ist unverkennbar, dass Haynes mehr an der kunstvollen, perspektivisch verschobenen Beschreibung einer Staunen erregenden Umwelt interessiert ist als an äußeren Details der Story, die zur Lüftung des ihr immanenten Geheimnisses beitragen könnten. Was Scorsese in „Hugo Cabret“ (fd 40 902) der Bahnhof Montparnasse und die Filme von Georges Méliès waren, das versucht Haynes durch das American Museum of Natural History und durch eine verblüffende Rekreation der filmischen Stile von 1977 und 1927 zu ersetzen: Bens Geschichte wird in Farbe und im Stil der Off-Hollywood-Filme der 1970er-Jahre erzählt, Roses Story in Schwarz-weiß und wie ein nur von Musik begleiteter Stummfilm.

Das Ergebnis all dieser unbestreitbaren Kunstfertigkeit ist ein Film, der immer wieder durch seine fantastischen „Imitationen des Lebens“ beeindruckt und nicht minder oft bezaubert, hinter dessen philosophischer Ebene aber die Erzählung einer den Zuschauer fesselnden Geschichte gelegentlich so stark zurücktritt, dass sie in Gefahr gerät, zur Nebensache zu werden. Während es Scorsese gelungen ist, Selznicks Buch in ein Amalgam der Mysterien von Film und Kinderwelt zu verwandeln, bleibt bei „Wonderstruck“ trotz aller Faszinationskraft eine intellektuelle Distanz spürbar, die den Film zwar bewundernswert, aber nicht überwältigend macht.

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