Playing God (2017)
Dokumentarfilm | Deutschland/Niederlande/Finnland 2017 | 101 Minuten
Regie: Karin Jurschick
Filmdaten
- Originaltitel
- PLAYING GOD
- Produktionsland
- Deutschland/Niederlande/Finnland
- Produktionsjahr
- 2017
- Produktionsfirma
- Bildersturm Filmprod./Windmill Films/Tuffi Films
- Regie
- Karin Jurschick
- Buch
- Birgit Schulz · Karin Jurschick
- Kamera
- Andreas Köhler · Timm Lange
- Musik
- Han Otten
- Schnitt
- Anika Simon
- Länge
- 101 Minuten
- Kinostart
- 08.02.2018
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
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Heimkino
Vielschichtiges Porträt des US-Anwaltes Ken Feinberg (Jahrgang 1945), der seit 30 Jahren Entschädigungen bei Katastrophen oder Massenunglücken aushandelt.
Wie verbringt ein Mann seine Abende, der tagsüber darüber entscheidet, ob Opfer und Hinterbliebene des 11. September, der Ölpest um die Bohrinsel Deepwater Horizon oder des noch immer das Erbgut verändernden Entlaubungsmittels Agent Orange ihre existenzielle Belastung dank einer Geldspritze besser ertragen können? Ken Feinberg, Staranwalt und Entschädigungsspezialist für Massenunglück, schaut in dem abgedunkelten Wohnzimmer fern. Mit ausgeschaltetem Ton. Stattdessen ist klassische Musik von Mahler, Brahms oder Wagner zu hören. Schon die Eingangssequenz lässt keinen Zweifel daran, dass der Porträtierte über ein solides Nervenkostüm verfügt. Eigentlich wollte Feinberg Schauspieler werden. Sein „Verstellungstalent“ helfe ihm, auf das Leid der Menschen, die Attentate oder Zugkollisionen überlebt haben, angemessen mitfühlend zu reagieren. Die stellt er bei Auftritten vor aufgebrachten Lastwagenfahrern oder verzweifelten Arbeitslosen im Film eindrucksvoll unter Beweis. Nur wie echt sind seine Empathie-Bekundungen wirklich? Zumindest seine Frau ist sich sicher, dass hinter der professionellen Schale ein weiches Inneres steckt. Selbst bei der morgendlichen Autofahrt zur Arbeit lässt es sich der „Meister der Katastrophe“ nicht nehmen, die Außenwelt mit symphonischen Tönen auf Distanz zu halten. Das gilt natürlich nicht für die vielen Ehrbekundungen von Politikern aller Couleur, mit denen sich Feinberg ablichten lässt, von George W. Bush über John Kerry bis zu Barack Obama. So lange sich diese Machtmenschen um ihn scharen, kann er sich gegen die nicht abreißende Kritik an den Ergebnissen seiner rund 30-jährigen Verhandlungskunst besser wappnen. Mit Lob sei in seinem Beruf nicht zu rechnen, erzählt er in seinem erstaunlich bescheidenen Washingtoner Büro. Er sei in Talkshows und öffentlichen Anhörungen immer wieder Zielscheibe von Wut und Frustration geworden. Denn wer Feinbergs oft mickriges Angebot einer sofortigen Kompensation annimmt, muss zugleich unterschreiben, dass er auf weitere Forderungen verzichtet. Diese außergerichtlichen Einigungen kommen vor allem der US-Regierung und den Großkonzernen zu Gute, die auf diese Weise Milliardenklagen mit wenigen Millionen abwehren können. Viele der Opfer wiederum lassen sich auf die Deals ein, weil sie sich die langjährigen Gerichtskosten nicht leisten können. Feinberg glaubt dennoch nicht, dass die Verantwortlichen dadurch von weiterem Fehlverhalten abgeschreckt würden. Er sieht seine Rolle überparteiisch, er stehe auf der Seite des Gesetzes und des Finanzministeriums. Seine laute Stimme duldet ohnehin keine Selbstzweifel. Unrecht mit Geld zu lindern sei nun mal Teil des amerikanischen Systems. Seine Aufgabe bestehe darin, die angemessene Summe zu finden, denn der Schaden eines Geschäftsmanns sei im Vergleichsfall nun mal nicht identisch mit dem Verlust eines Fensterputzers. Je länger man Feinbergs kalter Verrechnungsakrobatik zuhört, desto mehr versteht man, wie die US-Gesellschaft grundsätzlich funktioniert. Der pekuniäre Wert eines Menschenlebens spiegelt seine zu Lebzeiten erbrachte berufliche Leistung. Wer wenig verdient hat, etwa ein Feuerwehrmann, der in den Zwillingstürmen des World Trade Centers umgekommen ist, ist auch weniger wert als ein Wirtschaftsberater, der das Gebäude bei dem Anschlag nicht mehr rechtzeitig verlassen konnte. Den denkbar größten Kontrast liefert die Gegenüberstellung von Rentnern und Investmentbankern nach der Finanzkrise von 2008. Während die einen von erheblichen Rentenkürzungen bedroht waren, da sich ihr Fonds verspekuliert hatte, weigerten sich die anderen, auf millionenschwere Boni-Zahlungen zu verzichten, obwohl ihre Institute mit Steuergeldern am Leben erhalten wurden. Auch hier kam Feinberg als Mediator zum Einsatz und erreichte immerhin, dass die Boni der Führungskräfte so lange halbiert wurden, bis die Steuergelder zurückgezahlt waren. Im Falle der Rentner aber wehrte er Kürzungen mit dem entwaffnenden Argument ab, dass sie schlicht nicht ausreichten, um den bankrotten Fonds zu retten, weswegen die Politik nach anderen Lösungen suchen müsse. Die Dokumentaristin Karin Jurschick spinnt entlang von Nachrichtenbildern, Archivaufnahmen, Interviews mit Betroffenen und ruhigen Landschaftsimpressionen im Golf von Mexiko ein bewundernswert komplexes Netz, um Feinbergs ambivalentes Wirken in allen Facetten zu durchleuchten. Denn mal sorgt der Anwalt dafür, dass illegale Einwanderer, die in den Twin Towers ohne Papiere beschäftigt waren, eingebürgert werden. Mal äußert er gegenüber einem von der Ölpest betroffenen Fischer kaltschnäuzig Bedenken, ob dessen Lungenschwäche wirklich vom Ölgestank verursacht worden sei. Was wenig verwundert, da Feinberg von Britisch Petroleum (BP) für seine Schlichtungsdienste bezahlt wurde. Ist Feinberg, der selbst zu Protokoll gibt, von den progressiven Reformen der Kennedys beeinflusst worden zu sein, ein zynischer Blender, ein integrer Pragmatiker oder gar ein um Fairness bemühter Philanthrop, der zwischen Wirtschaftsinteressen und individuellen Schicksalen für die bestmögliche Balance sorgen möchte? Sein Wirken hat zwei Gesichter. Der Film zeigt dankbare Klienten und Verlierer einer auf Chancenungleichheit basierenden Justiz, etwa die von der Ölpest ruinierten Fischer, die ihre lächerliche Entschädigung schon nach einem Jahr aufgebraucht haben und mit einer Sammelklage wahrscheinlich besser dran gewesen wären. Es ist das Verdienst dieser unaufgeregten und ohne kalkulierte Zuspitzungen auskommenden Annäherung an einen allmächtigen Entscheider, dass sie den Blick für die bitteren Feinheiten auch unseres Rechtsstaats schärft. Feinberg jedenfalls ist sich der Folgen seines Tuns sehr bewusst, kann aber trotzdem nicht anders, als das kapitalistische Menschenbild walten zu lassen.