Drama | Deutschland 2017 | 114 Minuten

Regie: Peter Ott

Im irakisch-kurdisch-syrischen Grenzgebiet wird eine deutsche Ärztin von sunnitischen Stammesmilizionären entführt, die dem Islamischen Staat nahestehen. Dabei gerät nicht nur sie zwischen die Fronten, sondern auch ihre Entführer, die inmitten der sich ständig ändernden politischen Situation das Überleben ihrer Familien sichern wollen. Zwischen psychologischem Drama und Spionagefilm voller Zwischentöne nähert sich die Inszenierung den verwirrenden regionalen Interessenskonflikten anhand individueller Schicksale an. Dabei gelingt es dem Film überzeugend, für Erklärungsansätze jenseits moralisierender Gut-Böse-Schemata zu werben. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Mitosfilm/MMC Movies/WDR/arte/hr
Regie
Peter Ott
Buch
Peter Ott
Kamera
Jürgen Jürges · Jörg Gruber
Musik
Ted Gaier
Schnitt
Timo Schierhorn
Darsteller
Catrin Striebeck (Martina) · Christoph Bach (Moses) · Samy Abdel Fattah (Ismail) · Erol Afsin (Jibril) · Bangin Ali (Adnan)
Länge
114 Minuten
Kinostart
18.01.2018
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Thriller
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Real Fiction (16:9, 2.35:1, DD2.0 arab. & dt. & engl.)
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Vielschichtiges, auf Schwarz-Weiß-Zeichnung verzichtendes Thriller-Drama inmitten der Konflikte in Nahost

Diskussion

Am Anfang steht eine Landkarte. Zu den dicken Grenzstrichen zwischen Syrien, dem Irak und der Türkei kommen Dutzende weitere Linien, dünn gestrichelt oder gepunktet. PYD, KDP und PKK. Islamischer Staat, sunnitische Stämme, die Überbleibsel von Saddam Husseins Baath-Partei und deren militärische Verbände. Salafisten, Sozialisten und Idealisten, ausländische Geheimdienste und Kämpfer aus Europa. Ein Konflikt, den niemand mehr versteht. Um ihn trotzdem nicht zu ignorieren, muss man ihn auf kleinste Einheiten herunterbrechen. Genau das versucht Peter Ott mit seinem Spielfilm „Das Milan-Protokoll“, der Geschichte einer Entführung im irakisch-kurdisch-syrischen Grenzgebiet, wo alle ums Überleben kämpfen, in wechselnden Konstellationen und mit unterschiedlichen Loyalitäten.

Martina arbeitet als Ärztin in Dohuk im Norden Iraks, in der Autonomen Region Kurdistan, die seit dem Einmarsch irakischer Regierungstruppen im September 2017 faktisch nicht mehr autonom ist. Aber das steht auf einem anderen Blatt der Karte, die einer der Protagonisten anfertigt, um dann festzustellen, dass hier nichts von langer Dauer ist. Und so wird auch Martina, die sich mit ihren Kurdisch- und Arabischkenntnissen und durch ihre Kontakte zu kurdischen Milizen selbstsicher in der Region bewegt, zum Spielball der Interessensgruppen. Als sie die Grenze nach Syrien überquert, um einer jungen Deutschen bei der kurdischen Frauenmiliz YPJ zu helfen, die in einem Gefecht gegen den Islamischen Staat schwer verletzt wurde, wird sie von Maskierten entführt. Die gehören zu einem sunnitischen Stamm, deren Anführer ursprünglich dem Islamischen Staat die Treue geschworen haben, inzwischen aber nach neuen Konstellationen suchen, um ihr eigenes Überleben und das ihrer Familien zu sichern.

Zwischen den Fronten

Die deutsche Ärztin gerät genauso wie ihre Entführer zwischen die Fronten, die hier nicht nur entlang sich verschiebender Grenzen verlaufen, sondern vor allem durch die Seelen der Bewohner. So verlagert sich der Konflikt zunächst in die vier Wände von Martinas Gefängnis, einem kleinen Zimmer im Haus von Omar, dem Chef der Stammesmiliz. Hier gibt es eine Matratze, Waschzeug, frische Unterhosen, ein wenig zu essen. Vor der Tür murmelnde Männerstimmen und die Ungewissheit, was folgen wird. Zum Drinnen gehört auch Ismail, Martinas kaum volljähriger Bewacher, mit wachen Augen und vor noch nicht allzu langer Zeit ein Parteigänger des Islamischen Staates. Er könnte Martinas Sohn sein. Sie unterhalten sich über Musik, Schule, Freundschaften. Doch er hat eine Waffe, sie nicht. Später wird er zum Opfer dessen, was man abstrakt „Situation“ nennt: ein unnötiger Toter mehr, ein weiteres vergeudetes Leben, noch bevor es begonnen hatte.

Zwischen Gereiztheit, Kumpanei und Vertrauen erzählt „Das Milan-Protokoll“ mit genauem Blick für Gesten und Zwischentöne, wie sich so eine Situation anfühlt. Wenn keiner der Anführer hinschaut, suchen beide Seiten auch nach menschlicher Nähe. Die Gefangene hofft auf Erlösung, die Entführer, unter ihnen auch Frauen, die sich um die Hygiene und die Ernährung zu kümmern haben, wechseln zwischen Empathie und Drohgebärde, willkürlicher Erniedrigung und Anteilnahme, denn Martina ist nicht nur Geisel, sondern ja auch ein Gast im Haus.

Nicht alles verstehen, um mehr zu verstehen

Die Inszenierung schaut hier genau hin, ähnlich wie bei der Darstellung der fragilen Beziehungs- und Kommandogeflechte zwischen den Kämpfern vor der Zimmertür. Männer im Wartestand: Jeder hat Angst, vor den Häschern des Islamischen Staates nicht weniger wie vor dessen Zusammenbruch. Man bereitet sich für alle Möglichkeiten vor, versichert den Dschihadisten, aber auch deren Widersachen seine Loyalität. So etwas kann nicht lange gut gehen.

Für die Zuschauer ist das ein Verwirrspiel, bei dem die vielen Zwischentöne die Oberhand gewinnen. Viel zu oft neigt man dazu, in solchen Konflikten zwischen Gut und Böse unterscheiden zu wollen. Bisweilen aber ist es sinnvoll, nicht alles verstehen zu wollen, um am Ende mehr zu verstehen. Wenn es im Graubereich zwischen Loyalität und Moral ums Überleben geht, ist der logische Verstand den Emotionen oder schnell wechselnden regionalen Interessenskonstellationen unterworfen.

Einfacher macht es sich die Dramaturgie mit Blick auf die Strippenzieher im Hintergrund. Der deutsche Geheimdienstler, der Martina nach den Ereignissen verhört, wird als dubioser Funktionär zwischen Mitleid und Prinzipienreiterei gezeichnet, ganz ähnlich wie sein türkisches Pendant Murat. Was haben diese Männer in dieser Region verloren? Welche Interessen verfolgen sie? Sind Helfer wie Martina kollaterale Opfer oder Werkzeuge im Piel der Großmächte? Hier wandelt sich der Film mitunter zum Spionage-Thriller, der mit der zentralsten aller Verschwörungstheorien liebäugelt, dass nämlich die Geheimdienste an allem schuld seien.

Dass dieser Konflikt für solche Vereinfachungen zu komplex ist, weiß Ott als ausgewiesener Kenner der Region. Die Stärke des „Milan-Protokolls“ liegt daher nicht im Verweis auf geheimdienstliche Hintermänner, sondern in der genauen Zeichnung der Figuren, die auf den Schachbrettern der Mächte hin- und hergeschoben werden und im Verlauf der Handlung einem starken physischen wie psychischen Verfall ausgesetzt sind. Auch haben die Protagonisten allesamt Interessen: Die Ärztin Martina hegt starke Sympathien für die kurdische PKK, Ismail ging aus Abenteuerlust und falsch verstandenem Gottesglauben in den Irak, Vivian kämpft aus einer feministisch-sozialistisch genährten Motivation für eine bessere Welt. Das sind exemplarische Geschichten aus der Mitte Europas, dessen politische und soziale Unzufriedenheiten hier stellvertretend in Drittstaaten exportiert werden. Auf diese Weise wird unerwartet deutlich, dass die Konflikte im Nahen Osten auch durch eingewanderte Idealisten genährt werden. Sie sind ein bislang wenig reflektierter Teil der Nahost-Konflikte. Vielleicht auch deshalb, weil sie, wie im „Milan-Protokoll“, schnell zum Kanonenfutter der Geschichte werden.

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