Der blaue Express

Drama | UdSSR 1929 | 60 Minuten

Regie: Ilja Trauberg

In einem Expresszug, der 1920 von China in die Sowjetunion fährt, herrscht anfangs die vorrevolutionäre Ordnung mit Europäern und Unternehmern in der ersten Klasse, Bürgern in der zweiten und dem zusammengepferchten Proletariat in der dritten. Dann aber provoziert der Angriff auf ein armes Mädchen einen Aufruhr, der sich ausweitet und chinesische Tagelöhner gegen korrupte Generäle und Waffenschieber in Stellung bringt. An filmischen Vorbildern wie Sergej Eisenstein geschultes Revolutionsdrama, das als herausragendes Beispiel des proletarischen Montagekinos individuelles Schicksal und Leid mit dem Aufstand des Kollektivs verknüpft. Die kongeniale Musik der deutschen Fassung ist eine der letzten Arbeiten des Stummfilm-Komponisten Edmund Meisel. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
GOLUBOY EKSPRESS
Produktionsland
UdSSR
Produktionsjahr
1929
Produktionsfirma
Sovkino
Regie
Ilja Trauberg
Buch
Ilja Trauberg · Leonid Ijerichonow
Kamera
Jurij Stilyanudis · Boris Chrennikow
Musik
Edmund Meisel
Darsteller
Sergej Minin (der Europäer) · Chai Wan Sen (der General) · Chu Chai Wan (der Bauer) · Jakow Gudkin (erster Aufseher) · Iwan Saweljew (zweiter Aufseher)
Länge
60 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Kriegsfilm | Stummfilm
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IMDb | TMDB

Actionbetontes (Stummfilm-)Revolutionsdrama über den Aufstand von Tagelöhnern in einem Expresszug von China nach Russland, die sich der herrschenden Klasse entledigen.

Diskussion

Das actionbetonte Revolutionsdrama des russischen Regisseurs Ilja Trauberg (1905-1948) erzählt von einem Aufstand in einem Expresszug, in dem die vorrevolutionäre Ordnung über Bord geworfen wird, nachdem sich Gefangene und Arme gegen ihre Aufseher zur Wehr setzen.

Am Beginn steht eine Art historischer Einordnung: 1000 Anekdoten existieren über das große, von zahllosen Aufständen geschundene Volk „im tiefsten Orient“. Doch erst die Sehnsucht nach Menschlichkeit führte im Land der Lotusblüte und duftender Mangolien durch geldgierige Europäer zu einer Tragödie.

Aus dem Dunkel als Licht

China um 1920. Während namenlose Menschen auf die Abfahrt eines Zuges warten, vertreiben sich reiche Ausländer im Luxushotel die Zeit. Der Expresszug verfügt über drei Klassen: die niedrigste ist für Gefangene und arme Kulis sowie von Hunger und Knochenarbeit gezeichnete Kinder; die mittlere für den Mittelstand aus Händlern, Fabrikanten und Gelehrten; die Luxusabteile sind der Oberschicht vorbehalten, dem britischen Botschafter samt seiner Entourage. In der ersten Klasse trinkt man Cocktails und schwingt das Tanzbein zu flotten Grammophonklängen. Die einfachen Leute hingegen lauschen volkstümlichen Melodien aus guten alten Zeiten, die einige Mitreisende als überholte Romanzen empfinden und zur Agitation animieren.

Als zwei freigelassene westliche Gefangene alkoholisiert ein junges Mädchen belästigen, kommt es zu einer tödlichen Rangelei. Der Bruder des getöteten Mädchens wird als Mörder von den Soldaten gesucht. Doch im dahinrasenden Zug organisiert sich Widerstand gegen die Fremden: Die Armen und Gefangenen beschaffen sich Waffen, leisten Gegenwehr. Am Ende gewinnen die Rebellen die Oberhand, der Diplomat begeht Selbstmord. Als der gekaperte Zug am nächsten Bahnhof auf ein Abstellgleis geleitet werden soll, rettet ein solidarischer Arbeiter die Passagiere durch das Umstellen der Weiche. Somit ist der Weg frei für die siegreichen Aufständischen, für die Fahrt in eine neue, bessere Zukunft.

„Der blaue Express“ ist eine agitatorische Parabel, in der die Bilder des Kameramanns Jurij Stilyanudis den Montage-Rhythmus des „revolutionären Sowjetfilms“ massenwirksam unterstützen. Die Sowkino-Produktion von Regisseur Ilja Trauberg fungierte als Revolutionsexport, da sie die Euphorie der gesellschaftlichen Veränderung in das rückständige, zwischen Kommunistischer Partei und der Kuomintang-Bewegung (Tschiang Kai-scheck) zerriebene China transportieren sollte. Der Film selbst nutzt den letzten Atemzug der (künstlerischen) Freiheit, bevor die Parteidoktrin unter Stalin die Zügel straffer anzog und auch das Filmschaffen auf „Generallinie“ brachte. Die im Film angesprochenen Hungersnöte in China sollten schon wenig später im Zuge der Industrialisierung auch in der Sowjetunion furchtbare Realität werden und Millionen Opfer unter der Landbevölkerung fordern.

Innovative Filmmusik von Edmund Meisel

Nach der Uraufführung am 20. Dezember 1929 in Moskau tourte der Film erfolgreich durch das riesige Land. Großen Anteil an der gelungenen Symbiose von Bild und Ton hat die präzise, ganz dem Inhalt des Films und seiner ideologischen Erzähldramaturgie dienende Musik. Der gebürtige Wiener Edmund Meisel (1894-1930) schuf dafür eine innovative Komposition aus Geräuschen und stimmungsvoller Melodik. Nach Experimenten an der Berliner Volksbühne für Erwin Piscators politisches Theater hatte Meisel zu Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ (1925) und „Oktober“ (1928) sowie zu Ruttmanns „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ (1927) gefeierte Premierenmusiken geschrieben.

Für die deutsche Uraufführung von „Der blaue Express“ am 20. Oktober 1930, am Übergang vom Stumm- zum Tonfilm, wählte Meisel eine jazzige Orchestermusik für die 13-köpfige Lewis-Ruth-Band, die er im Berliner Mozartsaal selbst dirigierte. Eingespielt auf Schallplatte, konnte der Soundtrack dann auch in den neuen Tonfilm-Kinos eingesetzt werden. Für die französische Fassung (die jetzt von arte ausgestrahlt wird) griff Abel Gance auf diese Aufnahmen zurück.

Der Filmkritiker Siegfried Kracauer rezensierte „Der blaue Express“ in der „Frankfurter Zeitung“ und monierte die „Verspätung“ des Films, seiner Hymne auf siegreiche Proletarier und ihrer Fahrt ins himmlische Paradies. Trotz aller Symbolkraft und Virtuosität der Montage missfiel Kracauer das revolutionäre Pathos und die Vereinfachung der gesellschaftlichen Repräsentanten als „Schwarzweiß-Malerei“. Die raschen Veränderungen seien von „Inaktualität“ bestimmt, da ohne Verweis auf die „bittere Gegenwart“.

Individuelles und Kollektives greifen ineinander

Ilja Trauberg (1905-1948) entstammte, wie sein älterer Regisseur-Bruder Leonid Trauberg, einer gutbürgerlichen Familie aus Odessa und verkehrte mit avantgardistischen Künstlern wie Sergei Eisenstein, dem er bei „Oktober“ assistierte, Wladimir Majakowski oder Bertolt Brecht. Der zeitgenössischen Parteilehre folgend, stellte er zur „Aufklärung“ der Massen das gesellschaftliche Spannungsfeld ins Zentrum. Die Dynamik der neuen Zeit und der Triumph des Neuen über das Alte, verfügten wie in Wsewold Pudowkins „Sturm über Asien“ (1928) über eine enorme emotional-revolutionäre Sprengkraft.

Das hohe Lied auf die Technik (die Lokomotive als Fortschrittssymbol der Industrialisierung) unterstreicht die Lenkungsgewalt unterdrückter Menschen gegen den Betrug und Machtmissbrauch der Herrschenden. Das Aufeinanderprallen der Klassengegensätze spiegelt sich in der ausgefeilten Montage von Waggonpuffer und Musikanten, durch Überblendungen und Schärfeverlagerungen auf Gesichter, Hände, Füße und die Räder der Lokomotive. Das Plädoyer für die Fraternisierung von Landbevölkerung und aufgeklärten Arbeitern kombiniert geschickt Untersichten, Draufsichten und Großaufnahmen. Es verknüpft individuelles Schicksal und Leid mit dem Aufstand des Kollektivs gegen die verhasste, von den Imperialisten gestützte herrschende Klasse. Die Rebellion gegen die Ausbeuter des chinesischen Volks rekurriert auf die 1929 noch nicht abgeschlossene Diskussion um die Strategie zur chinesischen Revolution von Stalins Gnaden.

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