Ötzis Zähne waren bekanntlich schlecht: Karies, Parodontitis, ein verfärbter Frontzahn. Das Gebiss von Jürgen Vogel strahlt eher (und das der übrigen Darsteller auch). Andererseits: Was wäre Jürgen Vogel ohne Zähne respektive ohne die charakteristische Lücke zwischen den beiden Frontzähnen? Am Ende blickt man doch lieber auf einigermaßen intakte denn kariös ruinierte Zahnreihen.
Künstlerische Freiheiten sind in Felix Randaus „Der Mann aus dem Eis“ nicht nur erlaubt, sondern unumgänglich. Seit dem Fund einer mehr als 5000 Jahre alten, gefriergetrockneten Mumie im Gletschereis der Ötztaler Alpen weiß man viel mehr über das Neolithikum. Aber eben lange noch nicht alles. Etwa, wie die Menschen in der Jungsteinzeit gesprochen haben. Ein Spezialist für rätoromanische Sprachen hat für den Film eine Frühform des Rätischen entwickelt, eine Lautsprache mit einigen Wörtern, die damals so gesprochen worden sein könnte. Die künstlerischen Freiheiten bewegen sich also in einem eng gesteckten Rahmen. Die wichtigste Prämisse lautet dabei: So hätte es gewesen sein können. Bis auf die Zähne werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den so genannten Ötzi zum Teil sogar minutiös umgesetzt. Kostüm und Waffen ließen sich dank des guten Zustandes der Mumie und der Dinge, die bei ihr gefunden wurden, originalgetreu rekonstruieren.
Das ebenfalls von Randau verfasste Drehbuch folgt dramaturgisch Ötzis Verletzungen: der Hand, die offenkundig einige Tage vor seinem Tod bei einem Kampf zu Schaden kam, die schließlich tödliche Verletzung, der Pfeil, der ihn aus der Distanz in den Rücken traf. Die Inszenierung wählte sich jedoch keinen vermeintlich zurückhaltenderen, dokumentarischen Blick, sondern entschied sich für ein Kino der Schauwerte als ein Action- und Rachedrama. Die Lautsprache im Film wird nicht untertitelt – eine gute und mutige Entscheidung, die durch das gewählte Genre befördert wird: Faustkämpfe kommen auch ohne Dialoge aus. Der Bogen wird gelegentlich dennoch ein wenig überspannt, insbesondere durch den Bombast des Soundtracks, der erhabene Landschaften bisweilen richtig zudröhnt. Hier hätte man den großen Bildern, die mitunter an Joseph Vilsmaiers Bayern-von-oben-Film „Bavaria“ (fd 41 200) erinnern, und auch der Stille mehr vertrauen respektive Raum geben können. Es gibt wenige Szenen mit sehr expliziten Gewaltdarstellungen; eine davon ist allerdings eines Horrorfilms würdig. Hier ist die Altersfreigabe ab 12 Jahren in Frage zu stellen.
Kelab, die von Jürgen Vogel gespielte Hauptfigur, sinnt auf Rache, nachdem Mörder sein Dorf heimgesucht und auch seine Frau und seinen Sohn ermordet haben. Die drei Mörder nahmen etliche Gegenstände mit; abgesehen hatten sie es aber offenbar auf eine Art heiligen Schrein, der auch zu ihrer Beute gehört. Kelab folgt den dreien immer höher ins Gebirge, anfangs noch mit einem Neugeborenen auf dem Arm, dem einzigen Überlebenden des Überfalls. Genährt wird dieses von einer Ziege, die Kelab am Strick mit sich führt. Tatsächlich funktioniert die Geschichte so gut, dass es Randau und seinem Hauptdarsteller Vogel gelingt, die Spannung zu halten.
Inspiriert wurde der Film offenkundig von Jean-Jacques Annauds „Am Anfang war das Feuer“ (fd 23 305), ein Abenteuerfilm, der sich ebenfalls an den damaligen wissenschaftlichen Erkenntnissen orientierte und eine Lautsprache verwendete (allerdings mit Untertiteln). Eigentlich ist es erstaunlich, dass es bislang noch keinen Ötzi-Film gab, und auch bemerkenswert, dass der Regisseur mit fast schon US-amerikanischer Lust sich am Genre und am Spektakel orientiert. Es gibt viel internationales, insbesondere amerikanisches Interesse am Ötzi. Der dortige Markt ist hier sicher mit einkalkuliert – und ein kariöses Gebiss geht da natürlich gar nicht.