Eigentlich sind der zehnjährige Joseph und sein älterer Bruder Maurice zwei ganz normale Spitzbuben, die in kurzen Hosen und Baskenmützen durch die Straßen tollen und für jeden Streich zu haben sind. Doch Joseph und Maurice sind Juden – eine Tatsache, die man im Paris des Jahres 1941 unbedingt verschweigen muss, denn schon längst haben die deutschen Besatzer mit den Deportationen in die Konzentrationslager begonnen. „Bist du ein Jude?“, fragt der Vater Roman Joffo (intensiv dargestellt von Patrick Bruel) seinen jüngsten Sohn, um ihm dann, nach Josephs heftigem Kopfschütteln, eine schallende Ohrfeige zu versetzen. Mehrmals wird sich diese Prozedur wiederholen, bis der Junge in Tränen ausbricht. Er hat seine Lektion gelernt: Besser schweigend diese Schmerzen ertragen als entdeckt und deportiert zu werden.
Als die Lage immer prekärer wird, schicken die Eltern ihre Söhne allein in die südfranzösische Stadt Menton, die noch nicht von den Deutschen besetzt ist. Als gesamte Familie zu fliehen, wäre zu riskant, später will man sich in Menton wiedertreffen. Und so beginnt für die beiden Kinder eine Odyssee durch Frankreich, immer auf der Suche nach Übernachtungsmöglichkeiten, immer auf der Hut vor Verhaftungen und Verhören, immer im Zweifel, wem zu trauen ist und wem nicht.
„Ein Sack voll Murmeln“ beruht auf dem autobiografischen Debütroman des französischen Autors Joseph Joffo, der 1973 erschien und zwei Jahre später von Jacques Doillon unter dem Titel „Un sac de billes“ verfilmt wurde. Auch im Remake des frankokanadischen Regisseurs Christian Duguay („Jappeloup – Eine Legende“, 2013,
(fd 42 185)) bleiben die zentralen Themen evident: der schlagartige Verlust der Kindheit, die Stigmatisierung als Jude, die Vertreibung aus der gewohnten Umgebung. Joseph und Maurice müssen, getrennt von den Eltern, über Nacht erwachsen werden. Sie müssen handeln, auch wenn sie überfordert sind, müssen zusammenhalten, auch wenn sie sich im Stich gelassen fühlen; sie müssen selbstsicher sein, auch wenn sie sich fürchten. Vor allem aber müssen sie lernen zu vertrauen.
Duguay baut diesen Lernprozess durchaus als Spannungskino auf. Was etwa ist von dem Buchhändler zu halten, der eigentlich als Kollaborateur gilt, den Jungen aber trotzdem Unterschlupf gewährt? Und was ist mit dem Schleuser, der zwar das Geld der Jungen genommen hat, sie dann aber endlos lange am vereinbarten Treffpunkt warten lässt? Ohne die Hilfsbereitschaft ihrer Mitmenschen hätten es die Jungen nicht geschafft, ihre Begegnungen mit anderen sind immer auch von Solidarität geprägt. Dem gegenüber stehen die Grausamkeit und Skrupellosigkeit der Nazis, die der Regisseur aber nur andeutet. Verhöre und Erschießungen sind lediglich im Off zu hören, was aus dem Jungen geworden ist, der seine Murmeln gegen den Judenstern – im Glauben, er sei eine Medaille – getauscht hat, erfährt man nicht. Eine große Rolle spielt die Landschaft, die sich nach außen öffnet und von Licht durchflutet ist. Hier sind die Jungen unbeschwert, und hier kommen sie voran. Die Polizeibüros und Notunterkünfte strahlen hingegen mit ihrer beklemmenden Enge immer auch Gefahr und Stillstand aus. Ein wenig zu gefällig, zu konventionell und anrührend hat Duguay den Film inszeniert; manchmal hat man den Eindruck, als seien ihm die detailfreudige Ausstattung und das perfekt kreierte Zeitkolorit wichtiger als die eigentliche Geschichte. Doch nicht zuletzt durch das natürliche Spiel der jungen Darsteller Dorian Le Clech und Batyste Fleurial Palmieri vermag sein Film immer wieder zu packen.