Casting JonBenet

Dokumentarfilm | USA/Australien/VR China 2017 | 80 Minuten

Regie: Kitty Green

Der unaufgeklärte Mord an einer sechsjährigen Schönheitskönigin im Jahr 1996 dient als Ausgangspunkt einer dokumentarischen Annäherung an das Phänomen von Schönheitswettbewerben für Kinder. Bei einem vorgeblichen Casting für einen Spielfilm befragt die Regisseurin die Angehörigen der Ermordeten und Einwohner ihres Orts, wobei sich durch Widersprüche sowie durch filmische Mittel vielfältig aufgesplitterte Perspektiven ergeben. Ohne Kommentar präsentiert, wird das Verbrechen zur Projektionsfläche eigener Ängste und Sorgen, sodass sich reizvolle Einblicke in die Art und Weise ergeben, wie Menschen fremde Tragödien mit ihrer Erfahrung abgleichen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
CASTING JONBENET
Produktionsland
USA/Australien/VR China
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Forensic Films/Symbolic Exchange/Meridian Ent.
Regie
Kitty Green
Buch
Kitty Green
Kamera
Michael Latham
Musik
Nathan Larson
Schnitt
Davis Coombe
Länge
80 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Die Fiktion beginnt unmittelbar an den engen Grenzen der eigenen Wahrnehmung. Bei echten Kriminalfällen aus den Nachrichten fiebert die Öffentlichkeit oft mit, als wären es spannende Geschichten. Man beginnt Rollen zuzuweisen, fiktionalisiert Menschen und Ereignisse, castet Helden und Schurken. In ihrem Dokumentarfilm nimmt sich die australische Filmemacherin Kitty Green dieses Phänomens an.

Diskussion
Die Fiktion beginnt unmittelbar an den engen Grenzen der eigenen Wahrnehmung. Bei echten Kriminalfällen aus den Nachrichten fiebert die Öffentlichkeit oft mit, als wären es spannende Geschichten. Man beginnt Rollen zuzuweisen, fiktionalisiert Menschen und Ereignisse, castet Helden und Schurken. In ihrem Dokumentarfilm nimmt sich die australische Filmemacherin Kitty Green dieses Phänomens an. Statt aus dem unaufgeklärten Mord an der sechsjährigen Schönheitskönigin JonBenét Ramsey im Jahr 1996 eine weitere „True Crime“-Story zu pressen, geht die Gestaltung auf Distanz zum Geschehen. Die Regisseurin erfindet (ähnlich wie Robert Greenes „Kate Plays Christine“, 2016) einen Spielfilm über das Verbrechen und lässt Einwohner aus Boulder, dem Heimatort der Ramseys, für die verschiedenen Rollen vorsprechen. Die Protagonisten – JonBenét, ihre Eltern, ihr Bruder, der örtliche Polizeichef, ein Weihnachtsmann-Darsteller – zersplittern in viele Versionen ihrer selbst. Jump Cuts verwandeln einen potenziellen Polizeichef in den nächsten, lassen ihn 20 Jahre altern, färben seine Haare, verformen sein Gesicht, ohne seine Funktion zu verändern. Weil Darsteller stets jenen Menschen zu ergründen versuchen, der sie im Film werden wollen, offenbaren die Laiendarsteller im Rahmen der Probeaufnahmen ihre eigene Sichtweise dessen, was in der Mordnacht geschehen ist. Das Verbrechen wird zur Projektionsfläche ihrer eigenen Ängste und Sorgen, die jeweiligen Verlust- und Gewalterfahrungen werden damit abgeglichen. Die Abschweifungen, Anekdoten und Tiraden der Vorsprechenden offenbaren, dass jedes partikuläre Ereignis große Teile der menschlichen Erfahrung in sich tragen kann. Mit der Tragödie eines anderen konfrontiert, wird jeder zum Schauspieler: Man stellt sich vor, wie man selbst in dieser Situation handeln würde, und formt seine Erlebnisse zu Haltungen, Gesten und einer Figur. Aus den Einzelperspektiven entsteht so ein Realitätenmosaik, der hilflose Versuch einer Antwort auf unsere heute immer feingliedrigere Mosaik-Realität. Der Film zeigt die Weltsicht der Befragten und die Subjektivität ihrer Positionen auf, ohne sie bloßzustellen. Ein Beispiel: Schönheitswettbewerbe für Kinder werden (auch in „Casting JonBenet“) als Wunscherfüllung für die Eltern kritisiert. Eltern leben durch ihre Töchter ihre eigenen Rampenlichtfantasien aus, oder, so wird es JonBenéts Mutter Patsy vorgeworfen, strecken künstlich die eigene dahinschwindende Jugendzeit. Im Film kommt dieser Vorwurf ausgerechnet von Interviewten, die nur wenige Szenen zuvor noch tief in die Traumata und das Seelenleben der Ramseys eingetaucht waren. Diese Widersprüche werden nicht kommentiert oder durch humoristische „Gotcha-Journalismus“-Schnitte hervorgehoben, sondern lediglich am Rand als der menschliche Grundzustand zu Kenntnis genommen, den sie darstellen. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verlaufen in „Casting JonBenet“ wie die zwischen Meer und Küste: Unter der Gischt verschwimmend, den Gezeiten gleich vor- und zurückgedrängt. Spricht die Figur oder der Darsteller? Wo beginnt und endet eine Rolle? Konsequenterweise beantwortet der Film keine einzige Frage, sondern genügt sich in seinem Facettenaugen-Blick auf die Welt. „Casting JonBenet“ präsentiert Schrödingers Tathergang und eröffnet Möglichkeitsmatrizen – vielleicht aber auch nur ein Achselzucken in Spielfilmlänge. Wie der Film selbst weiß: Beides könnte wahr sein.
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