Man könne alles erzählen, nur nicht das wirkliche Leben, heißt es in Max Frischs Roman „Stiller“ (1954). Gut 20 Jahre später wich der Schweizer Schriftsteller in „Montauk“ von dieser Überzeugung ab und schrieb sein eigenes „wirkliches Leben“ auf. Nicht mehr: Ich stelle mir vor, sondern: So war es.
Dieser (vermeintliche) Widerspruch scheint Volker Schlöndorff fasziniert zu haben. Mit „Rückkehr nach Montauk“ kehrt er noch einmal zu seinem Freund Frisch (dessen Roman „Homo Faber“ er 1990 verfilmte
(fd 28 804)) zurück, wobei sein neuer Film erklärtermaßen keine Verfilmung der Erzählung „Montauk“, sondern allein dem Andenken Frischs gewidmet ist.
Schlöndorff geht es um jene unscharfe Grenze, an der sich „wirkliches“ Leben in Fiktion verwandelt – und umgekehrt. Und wie Frisch dreht sich auch bei Schlöndorff alles um die künstlerische „Bewältigungsarbeit“: das Erfassen existenzieller Probleme von Alter und Tod, der Selbstzweifel, die Befangenheit in gelebten Rollen, die Fehler, die man gemacht hat, was man bedauert, aber nicht mehr korrigieren kann. Schlöndorff (er-)findet dafür phänomenal schöne (mitunter fast schon zu schöne) Menschen-, Stadt- und Landschaftsimpressionen. Er schafft jenes „Ich stelle mir vor“, um Eindrücke eines (nicht unbedingt nur seines) wirklichen Lebens festzuhalten.
Mehrere lange „Monologe“ der Hauptfigur, des Schriftstellers Max Zorn, geben dem Film Halt und umspielen die permanente Ambivalenz von Fiktion und Realität. Stellan Skarsgård spielt eindrucksvoll diesen Max Zorn, der verführerischer Erzähler und „verführter“ Protagonist zugleich ist. Am Anfang blickt man ihm frontal ins Gesicht, während er von seinem Vater spricht und fragt, was wichtiger sei: dass man etwas getan hat, was man später bereut, oder dass man etwas nicht getan hat und gerade dies bereut. Dann jedoch wird klar, dass Zorn „nur“ auf einer Lesung aus seinem neuesten Roman „Jäger und Gejagte“ vorträgt, der von einer vor 17 Jahren gescheiterten Liebe handelt. Was davon ist romanhafte Fiktion, was autobiografisches „So war es“ des Schriftstellers?
Zorn ist zur Präsentation des Romans nach New York gekommen, wird in literarischen Zirkeln herumgereicht, betreut von der jungen PR-Agentin Lindsey, begleitet von seiner Lebensgefährtin Clara, die in New York arbeitet und die er nach längerer Trennung wiedertrifft. Zugleich fahndet er nach einer früheren Geliebten: nach Rebecca, die Ostdeutschland verließ, in New York Karriere als Top-Anwältin machte und die sich von ihm gar nicht finden lassen will. Zorn aber ist beharrlich, ja aufdringlich. Er will seine Erinnerungen überprüfen, spüren, ob seine Gefühle für Rebecca noch vorhanden sind – und ob sie womöglich noch etwas für ihn empfindet. Schließlich fahren beide nach Montauk, ans Meer, dorthin, wo sie sich einst geliebt haben. Und schon bald gilt für Zorn, was für Max Frisch ein Montaigne-Zitat ausdrückte: „So löse ich mich auf und komme mir abhanden.“
Es ist faszinierend zu beobachten, wie sich dieser so kluge und eloquente, charmante und auch sinnliche Künstler an diesem Wochenende abhandenkommt. Während er sich als gebildeter Europäer als „Versteher“ von Kultur und Politik gibt, offenbart sich, auf welch maß- und rücksichtslosem Egoismus sein eigenes Leben fußt – und wie wenig er sich für die Frauen in seinem Leben wirklich interessiert hat. Erst Rebecca löst sich aus seinem vorgefertigten Rollenbild (das der Film optisch lange übernimmt). Sie besteht darauf, endlich sprechen zu dürfen, und konfrontiert Zorn mit ihrem eigenen Dasein, ihren enttäuschten Hoffnungen, ihrer tiefen Trauer angesichts ihres verstorbenen Geliebten.
Nina Hoss gestaltet dies bewegend zu einem intensiven Monolog, der zum Dreh- und Angelpunkt des Films wird. Rückblickend erweist sich das zuvor Gesehene als „falsch“, und alles, was danach geschieht, gewinnt einen neuen Blickwinkel. Erstmals registriert der Schriftsteller Claras (bescheidene) Lebenssituation in New York. Lange blickt die Kamera zum Abschied Lindsey hinterher, die ihren „Job machte“, indem sie Max’ Geschichte (oder der seines Romans) zuhörte, ohne dass er je etwas von ihr und ihrem Leben erfragt hätte. Schlöndorff gibt nie vor, dass sich Zorn in diesen wenigen Stunden besinnen oder gar ändern könnte. Wie Frisch geht es auch ihm eher um die melancholische Grundstimmung eines Prozesses, bei dem sich Leben und Kunst miteinander auseinandersetzen. Und bei dem sich der Mensch in dem Maße ändert, wie er altert, ohne dadurch zwingend klüger zu werden.