„Certain Women“ beginnt mit einem ur-amerikanischen Bild: einer Eisenbahn auf ihrer Fahrt durch eine unberührte Landschaft. Aus der Tiefe des Hintergrunds tuckert sie heran und durchmisst diagonal das statische, von Bergen gerahmte Bild. Das dauert. Es ist einer dieser schweren, ewig langen und laut ratternden Güterzüge, wie sie James Benning in „RR – Railroad“
(fd 38 758) auf die Leinwand gebannt hat und die ein Gefühl vermitteln für das, was Zeit und Raum jenseits der urbanen Metropolen Amerikas bedeuten.
Es herrscht ein gemächliches, etwas träges Tempo in Livingston, Montana, dem Schauplatz der nur sehr lose verknüpften Geschichten über vier Frauen, die Regisseurin Kelly Reichardt von Kurzgeschichten der Schriftstellerin Maile Meloy („Both Ways Is the Only Way I Want It“) adaptiert hat. Und auch die Erzählung selbst hat keine Eile. Sie lässt aus, erklärt wenig, überlässt sich ganz den Figuren, den überwältigenden Landschaften und den geradezu archetypischen Räumen. Mit angestaubten Hotels und Diners, den menschenleeren Straßen und Parkplätzen wirkt der auf körnigem 16mm gedrehte Film vordergründig aus der Zeit gefallen. Seine visuellen Referenzen finden sich tatsächlich weniger im Hier und Jetzt als in den 1960er- und 1970er- Jahren: bei den Fotografien von Stephen Shore etwa und den Porträts der Malerin Alice Neel. Dabei ist „Certain Women“ aber ganz Gegenwartsfilm – es ist nur eine andere, weitaus peripherere Gegenwart als die, der sich der US-amerikanische Independentfilm gewöhnlich zuwendet.
Auf unprogrammatische Weise – und abseits der gängigen Erzählmuster der Milieustudie – geht es um gesellschaftliche Begrenzungen, sozioökonomische Differenzen und Geschlechterrollen. Und um die Bruchlinien zwischen Tradition und modernem Life Style, zwischen amerikanischer Mythologie und der unausweichlichen Realität der Lebensverhältnisse.
Was die Anwältin Laura, die sich in einer Ehekrise wiederfindende Gina und die Pferdepflegerin Jamie miteinander verbindet, ist kein gemeinsames Schicksal, keine kausale Verkettung. Es ist vielmehr die Atmosphäre der Vereinzelung und Einsamkeit, die die Figuren gleichsam umhüllt. Reichardt erzählt darüber über Blicke – es sind Blicke voller Erwartung und unerfüllter Hoffnung, Blicke, die nicht oder „falsch“ beantwortet werden, Blicke, denen ausgewichen wird, aber auch über die Leere der Orte und Räume, denen trotz aller Weite immer etwas leicht Drückendes, Begrenztes anhaftet.
Laura, die mit einem anhänglichen Klienten zu tun hat, der an seiner Arbeitsrechtklage verzweifelt, scheint zu ihrem Hund noch das vertrauteste Verhältnis zu haben. Ihre Affäre (mit Ginas Mann) hat etwas seltsam Schlaffes, Lebloses, einen Unterton von Depression. Gina ist die einzige Figur, die in einem familiären Umfeld situiert ist, doch aus der Komplizenschaft von Mann und pubertierender Tochter bleibt sie ausgeschlossen.
An anderer Stelle verschafft sie sich allerdings Zutritt und das durch pure Hartnäckigkeit. Mit ihrem Mann Ryan will sie ein Wochenendhaus mitten im Wald bauen, wofür sie gerne die Natursandsteine des alten Nachbarn hätte. Das Hipster-Paar (die Tochter heißt Guthrie!) mag es gerne ursprünglich und authentisch; die Steine seien „von Pionierhänden gemeißelt“, meint Ryan halbironisch. Nur möchte er nicht die Rolle des „bad cop“ übernehmen. Sobald Widerspruch zu erwarten ist oder auch nur ein Gefühl von Unwohlsein oder Schuld, schickt er seine Frau vor.
Für die junge Jamie dagegen, eine Native American, ist das Leben kein Life Style, den man sich auswählt. Sie ist mit Pferden groß geworden, also arbeitet sie als Rancherin in dem winzigen Ort Belfry. Abends schiebt sie ihr Essen in die Mikrowelle und schaut fern. Eher zufällig strandet sie in einem Abendschulunterricht und verliebt sich in die Lehrerin Beth, eine angehende Anwältin, die sich aus dem sozialen Milieu ihrer Arbeiterklasse-Familie hochgearbeitet hat und für den tristen Job vier mühsame Autostunden auf sich nimmt. Nach dem Unterricht begleitet sie Beth in ein Diner, Beth bestellt Suppe, Hamburger, Pommes und Eis, Jamie trinkt das kostenlose Wasser, erst später holt sie sich einen abgepackten Burger aus dem Kühlregal der Tankstelle.
Man kennt diese Art von „Loner“-Figuren eher aus dem „Männerfilm“. Kelly Reichardt arbeitet ganz im Stillen und ohne ideologischen Auftrag an einer Verschiebung. Etwas tröstet immerhin über die Einsamkeit der Frauen hinweg: Es entsteht eine subtile Verbindung zwischen den „certain women“, mögen sie auch nichts von der Existenz der anderen wissen.